Berlin - immerhin nicht Bagdad (Lindberg 4)

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Lindberg lebt im Jahr 2060, ist 75 Jahre alt und berühmt und entschließt sich, seine Memoiren zu schreiben. Jeden Freitag veröffentlicht er hier ein weiteres Kapitel aus seiner Biografie. Diesmal zieht er nach Berlin und beleidigt einen jungen Liedermacher.

Kapitel 3 (Oktober 2010)

Berlin war im Jahr 2010 eine schrecklich angesagte Stadt. Es war die Stadt, in die alle zogen, weil die Mieten günstig waren, die Menschen kreativ und die Schuhe retro. Berlin war damals das, was viele Jahre später Paderborn wurde, das Herz Deutschlands.

Wie jede Sache, auf die sich alle einigen konnten, lehnte ich auch Berlin ab. Meine drei Besuche in der Stadt hatten mich gelehrt, dass sie überheblich, anstrengend und abweisend war. In keiner anderen Stadt hatte ich so sehr das Gefühl, dass sie sich nicht für mich interessierte. Das Problem war bloß, dass ich mich entschlossen hatte, Blogger zu werden und zwar einer, der für Aufsehen sorgen wollte.

Der bekannteste deutsche Blogger war damals Stefan Niggemeier, jener Niggemeier, der später mit „Super“ die Bild-Zeitung als mächtigstes Boulevard-Blatt des Landes ablöste. Damals aber machte er vor allem als penetranter Medienkritiker von sich reden, der leider immer Recht hatte. Und er wohnte in Berlin, andere Blogger auch. Die Politiker sowieso. Also blieb mir nichts anderes übrig, als auch dorthin zu ziehen.

An dem Tag, als ich in Berlin eintraf, war die Welt gerade mit anderen Dingen beschäftigt. Sie hatte nichts Besseres zu tun, als den Tod eines Kraken zu bedauern, der bei der Fußballweltmeisterschaft 2010 alle Spiele richtig getippt hatte, und sich zu fragen, wie der Gründer von Wikileaks eigentlich privat so tickte. Damit wollten sich die Journalisten dafür rächen, dass er ihren Job gemacht hatte. In meinem Hass-Notizbuch notierte ich deshalb „alle“. Mal wieder. Also wie immer.

In Berlin kam ich in einer WG mit knarrenden Dielen unter, die aus einer Mutter und ihrem Sohn bestand. Die Mutter war wegen eines kaputten Beins drei Jahre zuvor in Frührente gegangen, der 24-jährige Sohn Frank war der schlechteste Musiker, den ich je kennengelernt hatte. Vor einigen Monaten hatte er beschlossen, auf Tour zu gehen, war aber gleich beim ersten Konzert in Potsdam so von der Bühne geprügelt worden, dass er zu Mutti zurückkehrte. Seitdem probte er in seinem Zimmer und war fest davon überzeugt, dass er es der Welt noch zeigen würde.

Ich kannte ihn kaum zwei Stunden, da spielte Frank mir einen Song auf seiner Holzgitarre vor und fragte mich, was ich davon hielte.
„Soll ich ehrlich sein?“
„Klar.“
„Das ist ein Grund für Mietminderung.“
Dann humpelte seine Mutter ins Zimmer und sagte ihrem Sohn, er solle aufhören zu spielen wie eine Katze, die mit dem Schwanz gegen die Hauswand geschleudert werde.
„Das ist Kunst“, sagte er.
„Kunst kommt von können und nicht von Brechreiz, Junge.“
Und ich fügte tröstend hinzu: „Ich glaube nicht mal, dass deine Songs von der UN-Charta für Menschenrechte gedeckt sind.“
Frank tat, was er später häufiger tun würde – er warf uns raus und rief uns hinterher, dass das Talent von Nick Drake zu Lebzeiten auch niemand erkannt habe.

„Irgendwann ziehe ich dem Jungen die Gitarre über seinen Schädel“, sagte seine Mutter, als wir in der Küche saßen. Spätestens da wusste ich, dass ich es mit der Wohnung nicht besser hätte treffen können.
"Ja", sagte ich, "aber füll die Gitarre vorher mit Zement."

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden