Der Skandal ist der Skandal

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Ich telefoniere mit seinem Onkel vom Mond. Außerdem schaffe ich mir ein neues Feindbild an und rege mich über Teppichhändler-Praktikantinnen auf.

Ich habe einen Onkel, der wohnt hinterm Mond. Wenn jemand aus der Familie Geburtstag feiert, feiert mein Onkel nicht mit. Sein Raumschiff funktioniert tadellos, aber niemand lädt ihn ein. Meine Mutter sagt: „Wenn du so wirst wie dein Onkel, bin ich nicht mehr deine Mutter.“ Fällt in Gesprächen sein Name, schütteln alle den Kopf. Dann seufzen alle.

Vor einigen Wochen klingelte das Telefon. Mein Onkel war dran.
„Hallo Sebastian, dich wollte ich sprechen.“
„Worum geht es?“
„Du arbeitest doch bei dieser Tageszeitung. Heute habe ich dort einen Artikel über einen Politiker gelesen, der korrupt sein soll.“
„Und?“
„Ihr habt es so groß auf die Titelseite gebracht, als sei es der Weltuntergang.“
„Für die Stadt war es das.“
„Blödsinn. Ihr macht das, was leicht von der Normalität abweicht, doch nur zum Skandal, damit euch die Normalität normal vorkommt.“
„Du sprichst in Rätseln.“
„Ich weiß.“
Dann legte er auf.

Am nächsten Tag fuhr ich für zwei Wochen zu einer Fortbildung. Es war eine Gruppe von 20 Leuten. Da die Gruppe rasch zusammenwachsen musste, suchte sie sich einen aus, den sie fortan nicht mehr mochte. Das Spiel 19 gegen 1 stiftet Gemeinschaft. Ich war dabei, ich gehörte zu den 19. 1 war eindeutig selbst schuld.

An einem Abend lag ich auf meinem Bett und sah Fernsehen. Dort lief eine Sendung über drei junge Frauen, die um ein Praktikum bei einem Teppichhändler aus Monaco kämpften. Bereits am ersten Tag hatten sich zwei gegen die eine verschworen. Ich war empört. Wie konnte jemand so fies sein?

Als mein Onkel wieder anrief, erzählte ich ihm von der unerträglichen 1 und der komischen Praktikantensendung im Fernsehen.
„Ihr Menschen seid schon ein scheinheiliges Volk“, sagte er.
„Was heißt denn das nun wieder?“
„Ich will es an einem Beispiel erklären.“
„Aber bitte kein Beispiel mit den USA. Immer, wenn es um Scheinheiligkeit geht, müssen die USA herhalten.“
„Zum Beispiel die USA. Erinnerst du dich daran, als die Folterbilder von Abu Ghraib um die Welt gingen und welche Empörung das auslöste?“
„Zu Recht.“

„Aber hätte nicht die Tatsache viel mehr Empörung verdient, dass amerikanische Soldaten überhaupt im Irak kämpften? Etwas Besseres als Abu Ghraib hätte der Regierung nicht passieren können. So sagte sie: Ja, hier, ein paar Böse haben wir auch, der Rest ist aber selbstlos unterwegs, um die Menschheit zu retten. Weißt du, was bei euch ein Skandal ist?“
„Was denn?“
„Ein Skandal ist, wenn die Halbdicken und die Dreivierteldicken die Dicken in einen Raum sperren und sagen: Guckt mal, wie dick die alle sind. Nur damit die Halbdicken und die Dreivierteldicken vergessen, dass sie selbst alles andere als schlank sind.“ „Du wirst moralisch, Onkel.“
„Die Spitze des Eisberges ist niemals der Eisberg.“
„Du redest wirr.“

Ich legte auf.

Mein Onkel wohnt einfach zu weit weg von der Erde, um sich ein Urteil über uns erlauben zu dürfen.

Dieser Text ist Teil meiner Kolumne "About a Boy", die jeden Freitag bei RP Online erscheint. Mehr Folgen gibt es hier.

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