Ein echter Teenie-Slasher (Lindberg 14)

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Lindberg lebt im Jahr 2060, ist 75 Jahre alt und berühmt und entschließt sich, seine Memoiren zu schreiben. Jeden Freitag veröffentlicht er hier ein weiteres Kapitel aus seiner Biografie. Diesmal berichtet er allerdings aus seiner Gegenwart über den Mord an einem Popstar.

Jahr 2060

Sie aß ihren Burger wie jemand, der keinen Menschen mit zweihundert Stichen ermordet hatte. Sie nahm ihn in beide Hände, drückte ihn zusammen, bis an den Seiten Ketchup heruntertropfte und biss dann gierig große Stücke ab.

Hannah Scholz war eine Frau von 61 Jahren, deren Speckwülste auch unter der formlosen Uniform ihres Arbeitgebers, ein Fast-Food-Restaurant, zu sehen waren. Ihr betongraues Haar hatte sie sie zu einem Zopf zusammengebunden. Das Gesicht war ungeschminkt, der Teint erinnerte an die Farbe, in der die Zimmer im Krankenhaus gestrichen waren. Um ihren Hals hing eine Kette mit einem orangefarbenen Stein, der bei jedem Biss zu baumeln anfing.

Ich hatte mir heute Mittag nur einen Hamburger holen wollen, weil ich keine Lust auf das Essen meiner Frau hatte. Diese betreibt momentan das Projekt „Ich koche alles, was Lindberg auf keinen Fall mag“. Ich stand in der Schlange und beobachtete die Kassiererin, wie sie Plastik- und Papierverpackungen auf Tabletts stellte. Irgendwoher kannte ich diese Frau, auch ihren Namen hatte ich schon mal gehört.

Als ich an der Reihe war, bestellte ich einen vegetarischen Burger, um das Personal zu ärgern. Schließlich hatten sie den nie vorrätig und mussten ihn immer noch zusammenbauen.
„Gehen Sie ruhig schon an Ihren Platz, ich bringen Ihnen Ihr Essen gleich“, sagte sie. Als sie dann zwei Minuten später zu meinem Tisch kam, fiel mir wieder ein, wer sie war.
„Sie sind doch die, die ...“
„Ja, die bin ich. Ich hätte nicht gedacht, dass sich heute noch immer jemand daran erinnert.“
„Sie waren monatelang täglich im Fernsehen und in der Zeitung.“
„Das war eine schlimme Zeit.“
„Haben Sie Lust, sich in Ihrer Mittagspause zu mir zu setzen?“
„Klar, warum nicht?“

Und nun saß Hannah Scholz vor mir und biss in ihren Hamburger.
„Sie müssen entschuldigen, mein Gedächtnis. Wie genau war das damals doch gleich?“
„Wenn, dann erzähle ich Ihnen die ganze Geschichte und nicht nur, was damals zu lesen war.“
„Nur zu.“

Also erzählte sie.

Hannah Scholz war in ihrer Kindheit der größte Fan von Justin Bieber gewesen, den man sich vorstellen kann. Sie kaufte jede seiner CDs, jede Zeitschrift, in der etwas über ihn stand, konnte jeden Song mitsingen, schlief in Bettwäsche mit seinem Gesicht.

„Und dann kam dieses Mädchen, diese Selena, oder?“
„Langsam“, sagte sie. „Vorher kam noch etwas anderes, das habe ich nie irgendwem erzählt. Ich hatte bei einem Gewinnspiel gewonnen und durfte mir den Soundcheck von Justin vor einem Konzert in den USA ansehen. Dort stand ich dann mit 99 anderen Mädchen, um ihn anzuhimmeln. Nach ein paar Minuten kommt Bieber auf die Idee, ein kleines Spiel mit uns zu machen. Er stellt uns Fragen zu seiner Person und wer sie richtig beantwortet, dem wirft er ein Bonbon zu. Wer das mit dem Mund fängt, darf zu ihm auf die Bühne.“
„Ziemlich arrogant.“
„Als ob einem elfjährigen Mädchen wie mir das damals klar war. Es ging ein Raunen durchs Publikum, als er das sagte. Ein paar Sekunden allein mit Justin Bieber auf der Bühne, davon hatte ich jede Nacht geträumt. Ich hätte mir beide Arme dafür abgeschnitten.“
„Und Sie haben eine Frage richtig beantwortet?“
„Ja, die letzte. Ich glaube, ich habe gewusst, wie sein Hund heißt. Es gibt noch ein Youtube-Video. Auf dem sehen Sie, wie ein dickes Mädchen erwartungsvoll den Mund öffnet und darauf wartet, dass Justin Bieber das Bonbon schmeißt.“
„Sie müssen wahnsinnig aufgeregt gewesen sein.“
„Mein Herz schlug wie eine Kirchturmglocke im Zeitraffer. In dem Video sehen Sie, dass mein Gesicht voller roter Flecken ist. Ich dachte nur noch daran, dieses verdammte Bonbon zu fangen. Um endlich neben meinem Idol zu stehen. Ich hatte mir vorher zum ersten Mal Parfüm aufgelegt. Ich hatte die Erwartung, dass es mein Leben verändern würde, was bisher größtenteils aus Hänselei und demütigenden Stunden im Sportunterricht bestanden hatte. Was es auch tat. Nur nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte.“
„Sie fingen das Bonbon?“
„Nein, es prallte auf meine Stirn und von dort auf den Boden. Bieber sagte 'Das war so knapp', und für mich bedeutete das 'Es war so knapp, dass ich neben ihm auf der Bühne hätte stehen dürfen'. Ich war am Boden zerstört. Erst aß ich nichts mehr und dann wochenlang alles. Und ich schwor mir, alles dafür zu tun, eines Tages neben Justin zu stehen, nein, vielmehr noch, eines Tages neben ihm aufzuwachen. Es konnte nicht sein, dass dies meine einzige Chance gewesen war.“
„Und dann kam Selena.“

Sie nickte.

Selena Gomez war vor knapp fünfzig Jahren eine Schauspielerin aus dem Disney-Imperium gewesen, die auf dem schmalen Image-Grat zwischen Teenager und Pornostar wandelte, also derselbe Grat, auf dem andere Mädchen in ihrem Alter gingen. Eines Tages tauchten Bilder auf, wie sie mit Justin Bieber an einem Pool Händchen hielt, wenig später gestanden beide: Ja, wir sind ein Paar. Das hatte zur Folge, dass die Fans von Justin Bieber, sie nannten sich Belieber, ihr augenblicklich Morddrohungen schickten, wie sie es bei jeder Frau traten, die ihrem Justin zu nahe kam.

Aber Hannah Scholz war die einzige, die es ernst meinte.

„Die anderen Mädchen fanden sich damit ab und hofften, dass diese Beziehung nicht für immer war. Ich aber hatte längst einen Plan ausgearbeitet, denn ich hatte das Gefühl, dass dies meine zweite Chance war. Ich hatte das Bonbon nicht gefangen. Aber ich konnte Selena Gomez aus dem Weg räumen und dann Justin Biebers Herz erobern.“
„Aber es war ein Plan, der nicht besonders ausgeklügelt war, wenn ich mich richtig erinnere.“
„Weil er es nicht sein musste. Schließlich nahm niemand die Sache mit den Morddrohungen ernst. Mir, dem kleinen pummeligen Mädchen, traute erst recht keiner so etwas Hinterhältiges zu.“
„Tja, falsch gedacht“, sagte ich.
Sie gestattete sich ein kurzes Grinsen.

Im Frühjahr 2011 war Selena Gomez für eine Wetten-dass-Sendung nach Berlin gekommen. Hannah hatte eine Bekannte in dem Hotel, in dem sie übernachtete, und die hatte ihr bereits einige Wochen zuvor von dem prominenten Besuch erzählt. Am Vortag der Sendung sagte Hannah im Matheunterricht, dass sie mal kurz auf Toilette müsse. Dann verließ sie das Klassenzimmer, kurz darauf das Schulgebäude und fuhr mit dem Bus nach Hause. Dort schnappte sie sich ihren rosafarbenen Rucksack, den sie bereits morgens gepackt hatte, und fuhr mit einem anderen Bus zum Bahnhof und von dort mit dem Zug nach Berlin.

„Wie sind Sie eigentlich ins Hotelzimmer von Selena Gomez gekommen?“
„Ach, das war kein Problem. Vor der Tür standen zwei Leibwächter. Ich erzählte ihnen, dass ich ein riesiger Fan von Selena Gomez sei und sie unbedingt einmal treffen wollte. Zuerst reagierten sie zögerlich. Dann aber holte ich Röntgenaufnahmen von meinem Großvater aus meinem Rucksack, die seinen von Krebs zersetzten Oberkörper zeigten. Ich weinte ein bisschen und sagte ihnen, dass ich bald sterben müsse und es mein sehnlichster Wunsch sei, Selena nur einmal die Hand zu geben. Dabei zeigte ich auf die Röntgenbilder. Das überzeugte sie und weil ich so harmlos aussah, ließen sie mich alleine mit Selena. Sie war auch sehr nett zu mir, auf diese falsche Art eben, aber dann machte sie einen Fehler.“
„Welchen?“
„Einmal stand sie auf, drehte mir den Rücken zu und ging zur Toilette. Diesen Moment nutzte ich, um das Küchenmesser aus dem Rucksack zu ziehen und mit meinem ganzen Körpergewicht auf sie zu springen. Dann stach ich zu, so oft ich konnte. Ihr blieb nicht mal Zeit, um richtig zu schreien. Ich stach solange zu, bis ich auf einmal begriff, dass ich meinem Ziel kein bisschen näher gekommen war. Dann setzte ich mich aufs Sofa und blieb dort solange sitzen, bis einer ihrer Leibwächter hereinkam.“
„Aber da Sie nicht strafmündig waren, kamen Sie wegen des Mords nicht ins Gefängnis.“
„Das ist richtig. Meine Schule bekam einen Haufen Ärger und ich durchlief natürlich einige staatliche Einrichtungen, aber im Großen und Ganzen kam ich ziemlich ungeschoren davon.“
„Mal abgesehen davon, dass sie von Justin-Bieber-Fans auf der ganzen Welt gehasst wurden.“
„Nicht von Anfang an. Zunächst schrieben mir alle, wie toll sie es fanden, dass er endlich wieder Single war und so weiter. Dann aber stellte sich heraus, dass Justin Bieber den Tod seiner Freundin nicht verkraftete, sehr schnell drogenabhängig wurde und schließlich schwer depressiv seine Karriere beendete. Mit gerade mal 17 Jahren. Und von da an war ich Freiwild für die Beliebers. Das ging soweit, dass ich Polizeischutz bekam und für einige Jahre in eine einsame Gegend nach Kanada zog. Nach fünf Jahren war der ganze Spuk dann vorüber.“ „Bereuen Sie Ihre Tat mittlerweile?“
„Es blieb mir damals einfach nichts anderes übrig. Ich hatte zwei Möglichkeiten: Ich konnte Selena nicht umbringen und damit sicher sein, dass sie ein glückliches Paar wurden. Oder ich konnte Selena umbringen und sicher sein, dass sie kein glückliches Paar wurden. Und von diesen zwei Möglichkeiten war mein Weg der zweitschlechteste.“
„Bestechende Logik. Geht Ihnen die ganze Sache denn noch häufiger durch den Kopf?“
„Nur ein Teil der Geschichte.“
„Wie meinen Sie das?“

Sie beugte sich zu zu mir herüber und nahm den Stein in die Hand, der an ihrer Kette hing.
„Sehen Sie den Riss hier? Der ist entstanden, als das Bonbon auf den Boden fiel.“

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