Hemingway und ich

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Ich entdecke, dass ich Ernest Hemingways Bruder im Geiste bin. Außerdem antworte ich auf meterlange E-Mails.

Einer muss Ernest Hemingways Werk ja fortsetzen. Zum Beispiel ich.

Ich habe meine Steuererklärung ausgefüllt. Alle sagten: „Du musst das und das und das angeben, dann kriegst du so und so viel Geld zurück.“ Ich gab weder das noch das noch das an und bekomme deshalb nicht so und so viel Geld zurück. Niemand versteht mich.

Vor einigen Tagen traf ich eine frühere Mitschülerin. Sie sagte: „Mir hat jemand erzählt, dass du seltsam geworden bist.“ Ich wandte mich ab und dachte nach. Ohne Erfolg.

Ich habe etwas beobachtet. Momentan erhalte ich einige längere E-Mails von Bekannten. Sie schreiben, was sie gemacht haben und was sie noch machen werden und wie es sonst so läuft. Gerne in zwei Dutzend Zeilen. Dann fragen sie: Nun erzähl mal, wie geht es dir? Ich greife zu eine der folgenden Antworten: Gut. Ja. In Ordnung. Manchmal verdreifache ich die Länge der Antwort mit „Viele Grüße“. Alle wichtigen Informationen sind in diesen Worten enthalten.

Nichts irritiert die Menschen so sehr wie kurze Antworten. Viele fragen, ob ich schlecht gelaunt sei oder gerade verlassen worden. Solche Dinge. Das ist ein Missverständnis. Die Länge meiner Antworten sagt nichts über meine Stimmung. Wenn mich jemand fragt, ob ich ihn mit dem Auto zum Bahnhof bringe, dann fahre ich ihn direkt dorthin. Und das findet er gut. Einen Umweg würde er nicht verstehen. Wenn mich jemand etwas fragt und ich antworte ihm so kurz wie möglich, findet er das nicht gut. Er findet mich seltsam.

Das liegt daran, dass Wörter eine unbegrenzte Ressource sind. Im Gegensatz zu Zeit, Geld und Benzin. In dieser Welt. In meiner Welt zahlt man Steuern auf zu viele Wörter. In meiner Welt spare ich deshalb Geld. In meiner Welt sagen die Leute: „Was, du hast schon wieder drei Hauptsätze und sieben Nebensätze ausgegeben, obwohl auch ein Ja gereichet hätte?“ In meiner Welt bin ich nicht seltsam. Alle verstehen mich.

Die Weltliteratur gibt mir Recht. Die Vertreter der flash fiction schreiben Kurzgeschichten, die manchmal nur wenige Sätze lang sind. Angeblich soll Ernest Hemingway diese Geschichte geschrieben haben: „For sale: baby shoes, never worn.“ Sechs Wörter, keines zu viel. Ein guter Schriftsteller ist ein Mensch, der mit weniger Wörtern mehr ausdrückt. Ich denke, Hemingway hätte E-Mails auch nur mit „Ja“, „Gut“ und „Alles in Ordnung“ beantwortet. Was die CD für die Schallplatte war, das war Ernest Hemingway für das Adjektiv.

Einige Menschen reagieren anders, wenn ich wenig sage. Sie halten mich für geheimnisvoll. Sie denken: „Er sagt nichts, also er hat etwas zu verbergen.“ Wer geheimnisvoll wirken möchte, sagt einfach wenig. Bei Ernest und mir hat es funktioniert.

Dieser Text ist Teil meiner Kolumne "About a Boy", die jeden Freitag bei RP Online erscheint. Mehr Folgen gibt es hier.

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