Herr Heiner flieht vor Google Street View

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Ich höre immer häufiger davon, dass Städte Google verklagen wollen. Eine von ihnen geht sogar bis zum Äußersten.

Herr Heiner steht vor dem, was mal sein Haus gewesen ist. Herr Heiner sieht auf platte Erde. Sein Haus steht nicht mehr. Es steckt in Taschen, Beuteln und Rucksäcken.

Frau Heiner sieht ihren Mann an und sagt: „Denkst du wirklich, dass es die richtige Entscheidung war, das Haus abzubauen?“
„Natürlich“, sagt Herr Heiner. „Du wirst sehen, alles wird gut.“
Herr Heiner nimmt seine Frau in den Arm.
Dann ruft der Bürgermeister: „In zwei Minuten geht es los. Wer noch pinkeln muss, der sollte das jetzt machen.“

Herr Heiner erinnert sich, wie alles begann. Vor einem halben Jahr surfte der Bürgermeister der Stadt durchs Internet und entdeckte sein eigenes Haus. Es sah so aus, als stehe er direkt davor. Es war das erste Mal, dass der Bürgermeister Google Street View nutzte und er war schockiert. Von der Fassade blätterte die Farbe, er hatte sie seit Jahren nicht gestrichen. Das Bild im Internet war ebenso traurig wie die Realität. Er fragte sich: Muss das sein? Und als er es weitererzählte und alle im Internet durch ihre Stadt streiften und sich entdeckten, fragten bald alle: Muss das sein?

Herr Müller sagte: „Niemand soll meine blassen Beine sehen.“
Frau Meier sagte: „Dieses Kleid steht mir überhaupt nicht.“
Herr Koslowski sagte: „Ich fasse dieser Frau wirklich nicht an den Hintern.“
Herr Jansen sagte: „Das geht doch nicht.“

Der Stadtrat beschloss, sich bei Google zu beschweren. Google sagte, sie könnten die Gesichter verdecken. Das reichte den Bewohnern nicht.

Herr Müller sagte: „Niemand soll meine blassen Beine sehen.“
Frau Meier sagte: „Dieses Kleid steht mir überhaupt nicht.“
Herr Koslowski sagte: „Ich fasse dieser Frau wirklich nicht an den Hintern.“
Herr Jansen sagte: „Das geht doch nicht.“

Der Stadtrat beschloss, vor Gericht zu ziehen und von Google zu verlangen, alle Bilder zu löschen. Google gewann den Prozess haushoch. Die Stadt brodelte, die Menschen riefen Skandal, Herr Heiner rief mit. Der Stadtrat beschloss, die Nutzung von Google innerhalb der Stadtgrenzen zu untersagen. Die Bewohner hielten sich daran. Google lachte sich halbtot.

Die Stadt schmiss die Computer aus dem Fenster. Dann tagte wieder der Stadtrat.

Der Bürgermeister schlug vor: „Meine lieben Freunde, wir haben keine Wahl, wir müssen unsere Stadt abbauen und an einer anderen Stelle wieder ganz anders aufbauen. Nur so besiegen wir Google, weil ihre Aufnahmen nutzlos werden.“

Nun aber murrten viele Stadtbewohner. Das ging ihnen zu weit. Der Stadtrat beschloss, die Menschen abstimmen zu lassen.

Der Bürgermeister sagte: „Wenn wir noch mal neu anfangen, heißt es auch, dass wir die ganzen Schulden hinter uns lassen. Wir können alles besser machen. Wir bauen unsere Stadt so auf, wie wir sie schon immer haben wollten, an einem Ort, an dem wir schon immer wohnen wollten.“
99 Prozent der Bewohner sagten: „Ja, wir ziehen um.“

In der Nacht zum Samstag bauten sie ihre Häuser und Kirchen und Straßen und Supermärkte ab und packten sie in Tüten und Taschen. Bevor sie losmarschierten, gingen alle noch mal pinkeln.

Frau Heiner fragt ihren Mann: „Wie weit ist es denn noch?“
„Quengel nicht, der Bürgermeister wird schon wissen, wohin er uns führt.“
„Aber ich bin müde und ich habe Durst.“
„Wir beginnen ein neues Leben, und du jammerst. Ich verstehe dich nicht.“
„Aber wenn ich doch müde bin und durstig.“
„Du wirst doch wohl noch eine Weile aushalten.“
„Wenn es dann nur besser wird.“
„Natürlich wird es das. Das haben sie doch gesagt.“

Eine halbe Stunde später sagt der Bürgermeister: „Stopp, wir sind da. Bis zum Morgengrauen müssen wir fertig sein.“

Und sie setzen die Steine wieder aufeinander.

Als die Sonne aufgeht, ruft einer: „Wir haben unsere neue Stadt ja genauso aufgebaut wie die alte.“

Dieser Text ist Teil meiner Kolumne "About a Boy", die jeden Freitag bei RP Online erscheint. Mehr Folgen gibt es hier.

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