Ich bin beinahe populär (Lindberg 10)

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Lindberg lebt im Jahr 2060, ist 75 Jahre alt und berühmt und entschließt sich, seine Memoiren zu schreiben. Jeden Freitag veröffentlicht er hier ein weiteres Kapitel aus seiner Biografie. Diesmal veranstaltet er zum ersten Mal ein Kulturevent.

Dezember 2010 (I)

Einmal kam mein Mitbewohner Frank, der unfähigste Musiker aller Zeiten, in mein Zimmer. Es war acht Uhr in der Früh und er klopfte nicht an.

„Lindberg, ich habe eine Idee.“
„Frank, hast du mal auf die Uhr geguckt?“
„Warte doch erstmal, bis du meine Idee gehört hast.“
„Warum kommst du nicht später wieder?“
„Lindberg, es ist aber eine saugute Idee.“
„Eine saugute Idee wäre es, wenn du endlich aufhören würdest, Musik zu machen.“
„Darum geht es ja auch. Nur umgekehrt.“
„Was bitte?“

Ich richtete mich auf.

„Ich habe mir überlegt, dass wir ein Konzert veranstalten.“
„Das kannst du mal schön alleine veranstalten. Denn es läuft ja vermutlich darauf hinaus, dass du das Konzert spielst.“
„Ja, aber nicht nur. Du kannst vorher Texte aus deinem Blog vorlesen.“
„Warum bitte sollte ich das machen? Was du dann fabrizierst, fällt auch alles auf mich zurück.“
„Du gehörst ja noch nicht unbedingt zu den Starbloggern Berlins. Da solltest du jede Gelegenheit nutzen, bekannter zu werden.“
„Gibst du mir gerade subtil zu verstehen, dass ich eine kleine Nummer bin?“
„So subtil war das gar nicht, Lindberg.“
„Frank, du bist doch der Loser von uns beiden.“
„Das kannst du ja bei der Lesung unter Beweis stellen.“
„Meinetwegen. Aber nur, wenn ich nach dir lese, ich bin schließlich der Star.“
„Soll mir Recht sein.“
„Und wo wollen wir auftreten?“, fragte ich.
„Na unten im Hof.“
„Frank, es ist Winter.“
„Hast du eine bessere Idee?“
„Im Waschkeller?“
„Da stinkt es nach schimmeligen Wänden.“
„Was ist mit der Eckkneipe?“, fragte ich.
„Da riecht es nicht besser.“
„Also dann unten im Hof. Die Leute können sich ja eine Jacke anziehen.“

Die nächsten Tage verbrachten wir damit, Werbung für das Kulturevent zu machen. Wir legten Handzettel in Plattenläden aus, hängten ein großes Plakat in den Hausflur und in meinem Blog schrieb ich „Lindberg liest, Frank macht irgendwas anderes, kommt auf jeden Fall alle, Freitag 19 Uhr.“ Das sollte genügend, um halb Berlin zum Event des Jahres zu locken.

Freitag 19 Uhr schneite es ohne Pause und es war stockfinster. Damit die Zuschauer uns überhaupt sehen konnten, musste einer von uns jede Minute den Bewegungsmelder fürs Licht im Hof auslösen, indem er ein paar Meter ging. Wir hatten ein paar Plastikstühle aufgestellt und davor zwei Paletten gelegt, unsere Bühne. Das Problem war nur, dass um 19 Uhr noch kein Zuschauer da war.
„Sollen wir trotzdem schon anfangen?“, fragte Frank.
„Klar, die Leute kommen sicher, wenn ich anfange zu lesen.“
„Aber es hört mich dann doch keiner.“
„Frank, ich glaube nicht, dass das so schlimm ist.“
„Musst du das immer sagen?“
„Jetzt geh schon auf die Bühne, dann haben wir es hinter uns.“

Als er eine Viertelstunde auf den Paletten gestanden und seinen Akustikabfall abgesondert hatte, kam seine Mutter Elke in den Hof, sagte „Seid ihr immer noch nicht fertig“ und setzte sich auf einen der Plastikstühle. Fünf Minuten später begann sie laut zu schnarchen. „Kannst nicht wenigstens du klatschen?“, fragte Frank in die Stille, nachdem er einen weiteren Song gespielt hatte.
„Darf ich denn auch aus Mitleid klatschen?“
„Klatsch einfach.“

Nach dem letzten Lied wachte seine Mutter wieder auf.
„Junge, wenn ich könnte, würde ich dich ins Heim geben. Geht das jetzt noch weiter?“
„Lindberg liest noch.“
„Erst, wenn noch ein paar Zuschauer kommen“, sagte ich.
„Dafür kann ich sorgen“, sagte Elke und verschwand wieder im Haus. Drei Minuten später schob sie einen alten Mann im Rollstuhl in den Hof. Er wohnte im Erdgeschoss, war ungefähr 89 Jahre alt und fast taub. Deshalb hörte er Abends immer sehr laut Jagdhorn-Schallplatten.
„So, dann leg mal los, Lindberg“, sagte sie.
Was blieb mir anderes übrig? Die Leute würden sicher noch kommen und holten sich nur gerade einen Kaffee oder Glühwein.

Da ich weder an einen Stuhl noch an einen Tisch gedachte hatte, las ich im Stehen. Die Schneeflocken landeten auf meinem Manuskript und verschmierten die Buchstaben, Frank vergaß ständig, den Bewegungsmelder fürs Licht auszulösen, meine Hände zitterten vor Kälte. Aber hatten nicht alle großen Intellektuellen unserer Zeit mit widrigen Umständen zu kämpfen? Später würde ich mich lachend daran erinnern.

Der Opa aus dem Erdgeschoss war bereits nach zwei Minuten eingeschlafen. Elke hingegen schien mir eine konzentrierte Zuhörerin zu sein – bis sie nach einiger Zeit brüllte: „Boah, was soll denn der Scheiß mit den Maikäfern und der Toilette und dem Innenminister? Und neben uns hat doch niemals der Sohn des nordkoreanischen Diktators gewohnt. Du bist doch völlig bekloppt.“

Sie schüttelte den Kopf.

„Lindberg, es ist kaum zu glauben, aber du bist ja noch unfähiger als mein Sohn.“
„Das ist Literatur, Elke, davon verstehst du nichts.“
„Pass auf, was du sagst, Junge, sonst schläfst du heute Nacht dort, wo du gerade stehst.“
„Lindberg, sollen wir nicht besser aufhören?“, sagte Frank. „Wir machen uns doch nur lächerlich.“
„Ich mache hier gerade Kunst, Frank. Da kann ich nicht einfach aufhören.“
„Macht Ihr das mal unter euch aus“, sagte Elke, stand auf und verschwand mit dem Erdgeschoss-Opa im Haus.
Ich las weiter. Dann verzog sich auch Frank. Ich las weiter. Dann ging das Licht aus.

Wir betranken uns später sehr in der Küche.

Was bisher geschah: Lindberg verlässt mit 25 Jahren sein Dorf, um die Welt mit seinen Ideen zu überrumpeln. Nachdem ihm der Chefredakteur der "Zeit" keinen Job anbietet, zieht er nach Berlin, um Blogger zu werden. Dort wohnt er zusammen mit dem erfolglosen Musiker Frank und dessen Mutter Elke.

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