Ich brauch Geld, will aber nicht richtig dafür arbeiten (Lindberg 11)

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Lindberg lebt im Jahr 2060, ist 75 Jahre alt und berühmt und entschließt sich, seine Memoiren zu schreiben. Jeden Freitag veröffentlicht er hier ein weiteres Kapitel aus seiner Biografie. Diesmal erzählt er von seinen Anfängen im Lokaljournalismus.

Dezember 2010 (II)

Meine Karriere als Blogger verlief in einer Steilheit nach oben, die sehr viel Ähnlichkeit mit dem Höhenprofil der Nordseeküste hatte. Mein Plan, die Berliner Meinungsrepublik zu dominieren, erwies sich als schwieriger als gedacht. Bisher hatte ich erst vier E-Mails bekommen, drei davon von nigerianischen Vermögensverwalter und eine, die ich mir selbst geschickte hatte, um zu testen, ob die Adresse funktionierte.

Die Blogosphäre ignorierte mich wie altes Brot, Spiegel und Zeit hatten mich noch nicht kontaktiert. Dass ich diesen Menschen geistig so weit voraus sein würde, dass sie mich nicht mal im Ansatz verstanden, überraschte sogar mich.

Hinzu kam ein weiteres Problem: Ich brauchte Geld für die Miete, denn die Ersparnisse waren aufgebraucht und Franks Mutter Elke, meine Vermieterin, wirkte wie jemand, der mich bei der geringsten Zahlungsverzögerung auch im Winter aus dem Haus werfen würde. Doch es war mir klar, dass ich mein Geld niemals mit richtiger Arbeit verdienen konnte. Dafür waren weder mein Verstand noch mein Körper gemacht.

Ich beschloss, Journalist zu werden.

Nun hatte ich aber überhaupt keine Lust, mir eine Abfuhr einzufahren wie damals bei Giovanni di Lorenzo. Also ließ ich mich dazu herab, weiter unten anzufangen. Im Lokaljournalismus.

Lokaljournalismus, heute ein ausgestorbenes Genre, war damals der wichtigste Grund, warum Menschen eine Tageszeitung abonnierten, da stimmten alle Chefredakteure überein. Denn die Leute wollten wissen, was vor ihrer Haustür passierte. Leider vergaßen die Medienexperten, daran zu denken, dass die Menschen immer häufiger umzogen und ihnen die Orte, an denen sie wohnten, deshalb immer egaler wurden und sie deshalb auch keine Zeitung lesen wollten, die ihnen von dem Ort erzählte, der ihnen so egal war.

Lokaljournalismus war die minderwertigste Form des Journalismus bis zu einem Grad, der es fraglich erscheinen ließ, überhaupt noch von Journalismus zu sprechen. Im Grunde bestand jede Lokalzeitung aus einem Bericht von der Jahreshauptversammlung irgendeines Vereins und Artikeln über Anwohner, die sich wahlweise über zu schnell fahrende Autos in der 30er-Zone oder den kaputten Spielplatz aufregten. Das letzte Drittel war ein als Journalismus getarnter Anzeigenteil der lokalen Wirtschaft, damit diese auch Anzeigen im echten Anzeigenteil schalteten.

Doch ich hatte keine Wahl, ich brauchte dringend Geld und so trat in die nächste Anzeigenblättchenredaktion. Ich hatte einen Termin mit dem Chefredakteur vereinbart. Dieser empfing mich in einem Glaskabuff und verfolgte offenbar das Ziel, innerhalb von drei Wochen die gesamte Marlboro-Jahresproduktion aufzurauchen. Auf dem Schreibtisch stapelten sich meterhoch Zeitungen, Akten und Teller mit Pizzaresten. An der Wand hing ein Kalender aus dem Jahr 2002 mit Motiven des Stadtteils und ein Gospelkonzertposter des Kirchenchors von 1997.

Ich hatte gleich gewusst, dass meine Entscheidung die richtige war. Ich nahm vor seinem Schreibtisch Platz, er setzte sich ebenfalls.

„Herr Lindberg, Sie wollen also für unsere Zeitung schreiben?“
„Ja, das ist korrekt.“
„Meinen Sie das ernst?“
„Sonst säße ich nicht hier.“
„Wollen Sie sich das wirklich antun?“
„Wie meinen Sie das?“
„Wollen Sie wirklich vier Stunden lang in einer Ratssitzung hocken, gegen die jeder Zahnarztbesuch ein Riesenvergnügen ist? Wollen Sie 100-jährige Omas besuchen, deren größtes Hobby es ist, Zeitungsartikel von Florian Silbereisen auszuschneiden und noch nicht tot zu sein? Wollen Sie über jeden Kindergarten schreiben, der wieder irgendeine Spende von irgendeiner Bank bekommen hat und damit ein neues Klettergerüst anschafft? Inklusive Fototermin mit riesengroßem Scheck? Und das alles für eine Bezahlung, die die Grenze zur Beleidigung längst überschritten hat?“
„Tun Sie mir einen Gefallen und verschonen Sie mich mit der Wahrheit. Auch ich glaube gerne an Lügen, wenn sie gut sind.“
„Sie haben Recht, Herr Lindberg… einen Moment. Also wenn Sie ein Interesse haben, unangenehme Wahrheiten aufzuklären, wenn Sie den Finger in die Wunde legen wollen, wenn Sie wochenlang recherchieren wollen, welches Unternehmen Giftmüll in den Fluss leitet, wenn Sie getrieben werden von Ehrgeiz, Anstand, Mut – dann sind Sie hier richtig. Wir sehen es gerne, wenn sie monatelang in Themen gesellschaftlicher Relevanz versinken und bezahlen Sie selbstverständlich nach Arbeitsaufwand, nicht nach gedruckten Zeilen. Besser so?“
„Ja, das gefällt mir.“
„Und, sind Sie dabei?“
„Wie könnte ich da widerstehen?“

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