Ich grüßte Herrn di Lorenzo ganz freundlich

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Lindberg lebt im Jahr 2060, ist 75 Jahre alt und berühmt und entschließt sich, seine Memoiren zu schreiben. Jeden Freitag veröffentlicht er hier ein weiteres Kapitel aus seiner Biografie. Diesmal beschließt er, im Büro des Zeit-Chefredakteurs zu übernachten.

Kapitel 2 (Oktober 2010)

Ich entkam meinem öden Dasein in der Provinz an einem Montagmorgen in einem Bus. Ich war der einzige Fahrgast.

Der Nebel stand so undurchdringlich auf der Straße wie der Wasserdampf in einem fensterlosen Bad, nachdem der FC Bayern dort geduscht hatte. Der Busfahrer, der mich zum Bahnhof brachte, hörte Alpen-Schlager und steuerte sein Gefährt gut gelaunt von Beinahe-Kollision zu Beinahe-Grabenkontakt. Ich ging zu ihm und fragte, wann er eigentlich seinen Führerschein machen wolle. Daraufhin bremste er, öffnete die Tür und wünschte mir einen guten Tag.

Den fünf Kilometer langen Fußmarsch zum Bahnhof nutzte ich, um darüber nachzudenken, wohin ich überhaupt mit dem Zug fahren wollte. Mein Ziel, die Welt mit meinen Ansichten zu überwältigen und zu beherrschen, schien mir am leichtesten als Journalist zu erreichen. Nicht im Internet, sondern in einer gedruckten Zeitung. Für Leser des Jahres 2060 ist es nicht vorstellbar, aber 2010 gab es mehr als die sieben Blätter, die sich bis heute gehalten haben. Es gab nur ein Problem: Damals hing ich dem Sozialismus an, doch die linke Presse war in Deutschland so einflussreich wie ein Eimer Wasser im brennenden Rom.

Die taz war damals noch nicht das mächtige Sprachrohr der schwarz-grünen Regierung, sondern nur irgendwie links und immer kurz davor, die Miete nicht mehr bezahlen zu können. Damals gab es auch noch Publikationen wie „Neues Deutschland“ und „Junge Welt“, die die letzten lebenden Kommunisten bedienten und mit ihnen verschwanden. Außerdem so eine Wochenzeitung, die sich das Layout vom Guardian geklaut hatte und deshalb hübsch war wie Schneewittchen. Doch weil die Redakteure unbedingt für zwölf Leser statt für zwölf Millionen schreiben wollten, hielt sich das Blatt nur noch einige Jahre. Mir blieb nur der halbe Verrat an meinen Idealen und der Plan, zur „Zeit“ zu gehen, die damals noch sozialliberal war. Auf nach Hamburg.

Vier Tage später saß ich im Büro von Giovanni di Lorenzo. Er war Chefredakteur der Zeit, bevor der Herausgeber Josef Joffe ihn rauswarf und die Zeitung zum Kampfblatt des westlichen Imperalismus verdrehte. Alle jungen Journalisten wollten so sein wie Giovanni di Lorenzo. Er war klug, er sah gut aus und er hatte ein Kind mit einer nicht unansehnlichen Frau, die früher im Fernsehen die Werbespot-Sendung „Die dicksten Dinger“ moderiert hatte.

Drei Tage lang hatte mich seine Sekretärin nicht zu ihm gelassen. Also hatte ich mich am dritten Abend im Gebäude versteckt, gewartet, bis alle nach Hause gegangen waren, mich in di Lorenzos Büro gesetzt und war dort eingeschlafen. Am nächsten Morgen wachte ich früh genug auf, um ihn zu empfangen.

„Haben Sie mich erschreckt. Was machen Sie in meinem Büro?“
„Herr di Lorenzo, ich grüße Sie. Setzen Sie sich doch erstmal.“
„Einen Teufel werde ich tun. Ich rufe den Wachdienst, wenn Sie nicht sofort sagen, wer Sie sind.“
„Herr di Lorenzo, ich bin mit einer frohen Botschaft zu Ihnen gekommen.“
„Bitte was?“
„Ich werde ab sofort für Ihre Qualitätszeitung schreiben.“
„Ach ja?“
„Herr di Lorenzo, wir wissen doch beide, dass ich ein ausgezeichneter Journalist bin und wo würde ich besser hinpassen als zu einer ausgezeichneten Zeitung?“
„Ich kenne Sie doch nicht einmal.“
„Lindberg ist meine Name, Herr Lindberg. Wo wird mein Büro sein?“
„Ich glaube, ich habe mich nicht klar genug ausgedrückt. Sie werden hier überhaupt kein Büro haben.“
„Sie schicken mich also direkt ins Ausland. Sehr gut. New York? Peking? Tokio? Das bisschen Japanisch lerne ich schnell.“
„Ich schicke Sie höchstens vor die Tür. Die halbe Welt will für die Zeit schreiben. Kommen Sie wieder, wenn Sie auf der Journalistenschule waren.“
„Herr di Lorenzo, ich muss sagen, Sie enttäuschen mich. Ihnen hätte ich als letztes zugetraut, dass Sie ein herausragendes Talent wie mich übersehen.“
„Herr Lindberg, ich gebe ihnen einen Rat: Mit Ihrer Arroganz werden Sie nicht weit kommen.“
„Und Sie werden bald Ihren Posten als Chefredakteur verlieren. Glauben Sie mir.“
„Bitte verlassen Sie dieses Gebäude und lassen Sie sich nie wieder blicken.“
„Das hatte ich sowieso gerade vor.“

Bevor ich ging, blickte ich mich noch einmal um.
„Ich finde, Ihre Frau ist ganz schön alt geworden.“
Dann schlug ich die Tür hinter mir zu.

Als ich wieder auf der Straße stand, wusste ich, wie die Welt von mir erfahren sollte: Ich musste Blogger werden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden