Ich möchte, dass endlich jemand Stopp ruft

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Ich denke nicht an das neue Jahr, sondern an das, was hinter mir liegt. Weil es eben doch nicht hinter mir liegt.

Ich habe gehört, dass die Leute fürs neue Jahr immer irgendeinen Vorsatz haben. Sie sagen, sie hören auf zu rauchen oder nehmen ab oder trinken nicht mehr so viel Bier.

Ich habe nie einen Vorsatz fürs neue Jahr. Ich komme mir am ersten Januar vor wie ein Tellerwäscher. Und während ich noch diesen riesigen Stapel Geschirr schrubbe, klatscht der Kellner schon den nächsten Stapel ins Becken. So geht das die ganze Zeit.

An Weihnachten ist der amerikanische Musiker Vic Chesnutt gestorben. Ich ging ins Internet, dort stand: „Singer-songwriter Vic Chesnutt is dead.“ Die Plattenfirma schreibt auf ihrer Website: „Vic Chesnutt 1964 – 2009“. Darunter ist ein Bild, auf dem hält Chesnutt seine Akustikgitarre, wie eine Mutter ihr Kind hält, wenn man es ihr wegnehmen will.

Mit 18 Jahren setzte sich Chesnutt betrunken in sein Auto und fuhr gegen einen Baum. Seitdem saß er im Rollstuhl. Ein paar Jahre später sah ihn Michael Stipe von REM, wie er ein Konzert gab. Er produzierte seine ersten beiden Alben. Das Dritte hieß „Drunk“, weil Chesnutt während der Aufnahmen betrunken war. Er machte mehr als ein Dutzend Platten. An Weihnachten nahm er eine Überdosis Schmerzmittel, dann fiel er ins Koma und starb.

Im vergangenen Jahr hat Chesnutt zwei Alben herausgebracht. Ein Song heißt „Flirted With You All My Life“. In dem beschreibt er, wie er nach all den Selbstmordversuchen doch nicht sterben will. „When you touched a friend of mine I thought I would lose my mind, but I found out with time that really, I was not ready, no, no, cold death.”

Zwei meiner Kollegen haben sich mit einem Bundesligatrainer und einem Geistlichen unterhalten, über Fußball und Religion. Dort sagt der Trainer, dass die Fußballwelt künstlich ist, nicht das wahre Leben, das wirklich zählt.
Darauf sagt einer meiner Kollegen: „Das sehen viele Fans aber anders. Haben Sie Sorge, dass die Grenzen überschritten werden?“
Der Trainer sagt: „Da muss ich mir keine Sorgen machen. Die Grenzen sind lange überschritten. Und da müssen wir nicht auf Markus Babbel gucken. Jupp Heynckes hat hier als Trainer Morddrohungen bekommen. Das müssen Sie sich mal vorstellen.“

Ich glaube, alle Leute sind an Neujahr Tellerwäscher. Manche sind nur nicht sehr gründlich. Deshalb machen ihnen die neuen Teller nichts aus. Ich nehme mir vor, das auch zu lernen.

Dieser Text ist Teil meiner Kolumne "About a Boy", die jeden Freitag bei RP Online erscheint. Mehr Folgen gibt es hier.

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