Ist noch alles nicht so schlimm

Leben Du hattest damit gerechnet, dass das erste Klassentreffen zehn Jahre nach dem Abi unangenehm bis tragisch werden würde. Es kam anders. Ein letztes Mal.

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Du gehst da jetzt also hin. Du siehst deinen Deutschlehrer von früher. Zwei Jahre nach deinem Abi ist er in Pension gegangen. Er unterhält sich mit einem Schüler an einem Stehtisch. Du hoffst, dass er sich jetzt nicht umdreht und dich sieht, denn du weißt nicht, ob du jetzt mit ihm sprechen möchtest. Ihr hattet regelmäßig Diskussionen, keine bösen, aber es gab Reibung. Du hast auch was in der Abi-Zeitung über ihn geschrieben, das nicht so nett war.

Du weißt nicht, ob du überhaupt mit jemandem von früher sprechen möchtest. Du hast doch fast alle zuletzt vor zehn Jahren gesehen, am Tag, als Ihr euer Abitur-Zeugnis bekamt. Mein Gott, ist das jetzt schon so lange her, die gute, alte Zeit? Ja, ist es. Du weißt nicht mal, ob es eine gute Idee war, in das Industriegebiet dieser mittelgroßen Kleinstadt zu fahren, das du immer mit deiner Zeit am Gymnasium verbinden wirst. Es ist ja nun auch nicht alles glatt gelaufen bei dir seit dem Abi.

Ihr kommt nett ins Plaudern

Dann sprichst du doch mit jemandem. Du musst am Eingang der angemieteten Diskothek bezahlen, zwei Mitschüler machen die Kasse. Mit dem Typen hattest du ab und zu was zu tun, von ihr hingegen kennst du nicht mehr als den Namen. Sie fragen dich, ob sie dich nun Sebastian nennen müssten oder dich auch mit deinem Spitznamen von früher ansprechen dürften. Du winkst ab und sagst, klar, natürlich dürften sie den Spitznamen weiter benutzen. Da habest du überhaupt kein Problem mit. Und das könnte sogar stimmen.

Ihr kommt ins Plaudern. Ihr kommt wirklich nett ins Plaudern. Dabei redet Ihr doch bloß über das, worüber man nach zehn Jahren so redet. Also die Arbeit. Nicht einmal musst du dich zwingen, dranzubleiben, denn du hörst gerne zu, was sie zu erzählen haben.

Dann steht dein Deutschlehrer plötzlich vor dir. Ihr gebt euch die Hand. Du bemerkst, dass seine Haare grau geworden sind. Aber sonst? Sein Geschmack für bunte Hemden und beige Hosen ist geblieben. Ihr seid gleich im Gespräch. Er sagt, er lese immer deine Artikel in der Zeitung. Du sagst, da habe er ja damals doch einiges richtig gemacht, und du lächelst. Er sagt, die CD, über die du neulich geschrieben hast, die habe er sich sogar gekauft. Ihr redet über Konzerte. Er hat jetzt viel Zeit. Seine Frau ist vor einigen Jahren gestorben. Ihr redet darüber, dass ja doch vieles gleich bleibt. Sind nur einige etwas dicker geworden. Ihr redet darüber, wer noch so Journalist geworden ist von seinen Schülern. Einer ist sogar Sportmoderator bei der ARD, er kommt aus demselben Ort wie du. Du sagst, dass du einige der Reclam-Klassiker mittlerweile ganz gerne liest.

Was machst du so?

Nach einer Dreiviertelstunde sagst du, dass du jetzt mal zu deinen früheren Mitschülern gehst. Du sagst das nicht, um ihn loszuwerden. Du sagst das, weil du jetzt wirklich mal mit deinen früheren Mitschülern reden möchtest. Du hast jetzt keine Bedenken mehr. Niemand trägt dir irgendetwas nach von früher. Du sprichst mit Leuten. Sie fragen dich, was du so machst, und du antwortest. Dann fragst du sie: Und was machst du? Du fragst das wirklich, diese Frage, die zum Klischee geworden ist. Die doch eigentlich niemand mehr stellen kann, ohne zuzugeben, dass ihm nichts Besseres einfällt. Wenn sie sagen, dass sie schon ein Haus am Stadtrand haben und sich auf das Vereinsleben freuen, dann denkst du nicht, dass sie bescheuert sind. Wenn sie sagen, dass sie 2000 Euro am Tag verdienen, dann gönnst du es ihnen. Sie sind Architekten geworden, Fotografen, Techniker, Lehrer, Unternehmensberater, Mitarbeiter im Außendienst, Buchhalter, Bankangestellte. Einige sind noch an der Uni und machen ihren Doktor. Manchmal versteht du auch nicht so genau, was genau sie machen, aber du hast den Eindruck, dass niemand totunglücklich ist.

Als du auf dein Handy siehst, ist es nach Mitternacht. Eine Pizzabestellung wird aufgegeben. Es ist halb zwei, als du dich ins Auto setzt.

Du hättest das wirklich alles nicht gedacht. Dass du niemanden bemitleiden würdest. Dass du niemanden beneiden würdest. Dass du einfach mit deinen früheren Mitschülern sprichst, ohne dass es unangenehm wird auf der Suche nach Gesprächsthemen.

Das Leben in zehn Jahren

Es ist schön und natürlich ist es zu schön, um wahr zu sein. Oder nein, jetzt ist es schön, aber dann wird dir klar, dass das noch alles nichts zu sagen hat. Es sind erst zehn Jahre vergangen seit dem Abi. Mehr als die Hälfte der Zeit ging fürs Studium drauf, und nun sind alle noch dabei, sich in ihren Jobs zu orientieren. Es ist viel passiert in den vergangen Jahren, es wurden Weichen gestellt. Nur, dass nach zehn Jahren eben noch nicht klar ist, ob es die richtigen Weichen waren. Alle haben noch Pläne, noch hat sich niemand entmutigen lassen. Aber wie sieht es aus, wenn sie sich in zehn Jahren erneut treffen? In zehn Jahren steht einem nicht mehr die ganze Welt offen. Dann haben einige sich bereits damit abgefunden, dass das Leben nichts Besseres mehr für sie bereithält. Dann fehlt einigen die Kraft, die Hoffnung aufrecht zu erhalten. Dann steckt man die Schläge nicht so weg wie früher. Dann sind Träume geplatzt. Ehen geschieden. Gut möglich, dass nicht mehr alle leben.

Es kann sein, dass du in zehn Jahren mit deinen Mitschülern zusammenstehst und denkst, wie in Ordnung eure Welt noch vor zehn Jahren war.

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