Kellnerin des Grauens

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Ich erzähle die Geschichte von B., der bei einem Treffen mit alten Schulfreunden sehr lange auf die Kellnerin warten muss.

Als B. aufwacht, hat er eine alte Fernsehsendung im Ohr.
„Sie können die 5000 Mark nehmen“, sagt der Moderator, „aber Sie können auch Risiko gehen und vielleicht das Auto gewinnen.“

Am Abend trifft sich B. mit einigen Freunden in einem Restaurant. Es steht in derselben Kleinstadt wie die Schule, an der sie zusammen Abitur gemacht haben. Sie haben sich seit einem Jahr nicht gesehen.

B. betritt das Restaurant, die anderen sind bereits da. Er sagt „Hallo“ und setzt sich zu ihnen. Einer hat seine neue Freundin mitgebracht. Sie fragen sie, wie sie sich kennengelernt haben, was sie beruflich macht und ob sie wisse, dass er in der achten Klasse einer Lehrerin mal an den Po gefasst habe.

Alle lachen.

Dann erzählen sie reihum, was sie in der Zwischenzeit gemacht haben und dass der Job gar nicht so schlecht sei und die Bezahlung gut.

„Wir konnten ja nicht ewig jung sein.“

B. sagt nichts.
„Wie läuft es bei dir?“
„Ganz gut“, sagt B.
„Arbeitest du noch immer bei der Bank?“
„Ja.“
„Du kannst echt froh sein, dass du den Job hast.“
„Ich weiß“, sagt B.

Dann kommt das Essen. Sie reden über den Film, über den jetzt alle reden, und diskutieren, ob die technischen Neuerungen die schwache Handlung ausgleichen. „Es gibt da ja diese Folge bei den Simpsons, wo Homer…“, sagt irgendwann einer.

B. denkt wieder an den Tag, als er neulich einen halben Tag mit dem Zug in die große Stadt gefahren ist. Dort saß er in einem Büro der Universität und ihm gegenüber ein Mann, der sagte: „Wenn Sie bei uns Philosophie studieren wollen, müssen Sie Ihre Unterlagen bis zum Monatsende einreichen. Die Fakultät hat einen ausgezeichneten Ruf.“
B. sagte: „Das ist ein großer Schritt. Ich denke darüber nach.“
Er dachte: "Das ist es, was ich schon immer machen wollte."

Gegen elf Uhr bestellt einer die Rechnung. Die Kellnerin kommt mit dem Kassenbon und fragt, wer was hatte. Dann geht sie zurück zur Kasse und rechnet und rechnet und rechnet und dann kehrt sie zurück an den Tisch und sagt, es fehlten noch das und das und das. Einer sagt, dass sie aber so viel gar nicht bestellt hatten und dann geht die Kellnerin wieder zurück zur Kasse und rechnet weiter. Und rechnet und rechnet. Die Gruppe wird ungeduldig. Eine sagt, das könne ja wohl nicht wahr sein. Sie sagt es so laut, dass die Kellnerin es hört.

Es dauert vierzig Minuten, dann haben sie bezahlt und verlassen das Restaurant. Sie wollen noch in eine Cocktailbar. Während sie gehen, reden sie über die Kellnerin. Sie lachen.

Die Cocktailbar ist eine Kneipe, in der es auch Cocktails gibt. Bald stehen große Gläser auf ihrem Tisch, auf dessen Rändern Ananasstücke stecken.
„Hoffentlich braucht die Kellnerin hier nicht auch so lange mit der Rechnung“, sagt einer.

Alle lachen.

B. fragt sich, welchen Unterschied es gemacht hätte, wenn sie vierzig Minuten früher hier gewesen wären. Nach einer Weile fallen ihm die Augen zu. Er sitzt eingezwängt neben der Heizung. Als sie wieder draußen sind, holt er tief Luft.

Am nächsten Morgen fragt ihn seine Mutter beim Frühstück, wie es war.
„Nicht schlecht“.
Und B. meint es genau so. „Nicht schlecht“. Und dann erzählt er die Geschichte von der Kellnerin, weil er nicht weiß, was er sonst erzählen soll.

Er hat wieder die Fernsehshow im Ohr: „Sie können auch Risiko gehen und vielleicht das Auto gewinnen. Wie entscheiden Sie sich?“

Dieser Text ist Teil meiner Kolumne "About a Boy", die jeden Freitag bei RP Online erscheint. Mehr Folgen gibt es hier.

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