Lance Armstrongs größter Sieg

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Ich weiß, wie die morgige Etappe der Tour de France endet. In der stellt Lance Armstrong sehr merkwürdige Dinge an, ein Magen allerdings auch.

Erst als Lance Armstrong vom Rad gestiegen ist, die Tür des Mannschaftsbusses geschlossen hat und sich auf seine Liege hat fallen lassen, begreift er, was er soeben geleistet hat. „Der größte Sieg meiner Karriere“, denkt er und schließt die Augen. Als er sie wieder öffnet, sieht er in das entsetzte Gesicht seines Masseurs.

Es ist zwei Stunden her, als Lance Armstrong beginnt, den Mount Ventoux hochzustrampeln. 1912 Meter über dem Meeresspiegel. Die vorletzte Etappe der Tour de France. Sein Rückstand auf den Führenden und Teamkollegen Alberto Contador beträgt mehr als fünf Minuten. Die Sache ist gelaufen, Armstrong wird ihm helfen, die Tour zu gewinnen. Eine ungewohnte Rolle für ihn.

Armstrong blickt zur Seite und sieht gerade noch, wie die Schleck-Brüder aus dem Sattel steigen und attackieren. Schon haben sie zwanzig Meter Vorsprung. „Diese verfluchten Schleck-Brüder“, denkt Armstrong, „wer hat die eigentlich erfunden? Immerzu müssen die angreifen.“

Armstrong geht ebenfalls aus dem Sattel, steigt hinterher und hängt bald an ihrem Hinterrad. Zwei Minuten geht das so, dann fällt ihm sein Kapitän Alberto Contador ein. Er blickt sich um und sieht nur noch, wie dieser über dem Lenker hängt und kotzt, kaum noch fähig, die Pedale zu bewegen.

Armstrong denkt: „Ich kann die Tour gewinnen. Ich kann noch mal die Tour gewinnen.“ Und ehe er sich versieht, tragen ihn seine Beine an den Schleck-Brüdern vorbei. „Ja, ja“, denkt er, „da ist er wieder, mein berühmter Wiegetritt. Seht her.“ Die Schleck-Brüder haben keine Chance, nach zwei Minuten fährt Armstrong ungefährdet an der Spitze. Er nimmt die Zuschauer nicht wahr, er hat sie nie wahrgenommen. Er hat nur das Ziel vor Augen. Zehn Kilometer noch. Einfach ankommen und die Etappe gewinnen und die Tour de France. Er fährt wie eine Maschine.

Er denkt: Zum achten Mal in Paris oben auf dem Siegertreppchen stehen. Zum achten Mal Zuschauer, die ihm auf dem Champs-Élysées zujubeln. Zum achten Mal die Trophäe empfangen. Zum achten Mal mit dem Zweit- und Drittplatzierten Hände schütteln. Schon wieder. Schon wieder. Schon wieder. Nicht schon wieder.

Und dann ist da dieser Gedanke. Armstrong setzt sich, wird sofort langsamer. Das Begleitfahrzeug fährt zu ihm.
„Was ist los, Lance?“, sagt der Chef.
„Nichts, ich habe mich nur übernommen.“
„Lance, du kannst die Tour gewinnen, Contador ist völlig fertig.“
„Ich weiß.“

Armstrong wird noch langsamer, von hinten fahren die Schleck-Brüder auf. Als sie an ihm vorbeifahren, sieht er ihre verbissenen Gesichter. Er kennt diesen Ausdruck, bis vor ein paar Minuten hat er noch genauso geguckt. Zehn Sekunden später sind die Schleck-Brüder an ihm vorbei.
„Los“, brüllt der Teamleiter aus dem Auto, „du musst an ihnen dranbleiben.“
„Keine Angst, ich werde siegen.“
Noch fünf Kilometer.

Armstrong fährt mittlerweile so langsam, dass er schwankt. Der Teamleiter schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. Dann ziehen die Fahrer gleich im Dutzend an Armstrong vorbei. Andreas Klöden, Carlos Sastre, Bradley Wiggins, Cadel Evans. Zehn Minuten später schleicht auch Contador an ihm vorbei, sein Gesicht bleich, danach die Sprinterbande, die sich wie immer zusammengeschlossen hat.

Es sind noch 300 Meter ins Ziel, als auch der Letzte im Rennen zu ihm aufschließt. Der Weißrusse Yauheni Hutarovich lässt sich wie immer besonders viel Zeit. Armstrong fällt fast vom Rad, so langsam muss er fahren.
„Hallo“, sagt Armstrong.
„Hallo“, sagt Hutarovich, „was machst du denn hier?“

Armstrongs Antwort geht im Gelärm der Zuschauer unter. Als Hutarovich vor Armstrong über die Ziellinie rollt, fragt er „Bitte was?“
„Ich habe gerade einen großen Sieg errungen“, sagt Armstrong, „den größten meiner Karriere.“

Dieser Text ist Teil meiner Kolumne "About a Boy", die jeden Freitag bei RP Online erscheint. Mehr Folgen gibt es hier.

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