Lindbergs Weltgeschichten (1)

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Lindberg lebt im Jahr 2060, ist steinalt und berühmt und entschließt sich, seine Memoiren zu schreiben. Regelmäßig veröffentlicht er hier ab sofort Kapitel aus seinem Leben. Heute muss er aber erstmal zu seinem Verleger.

Mein Name ist Lindberg. Ich bin 75 Jahre alt und ich bin berühmt. Dies ist das Jahr 2060. Was das betrifft, bin ich mir sicher.

Vor einigen Wochen setzte ich mich an meinen Schreibtisch, um meine Memoiren zu beginnen. Es war dort, als ich die schreckliche Entdeckung machte.
„Das ist das Ende“, sagte ich zu meiner Frau, als ich in die Küche gegangen war. „Ich bin erledigt.“
„Lindberg! Andere Leute verlieren ein Bein oder ihr Vermögen oder einen Angehörigen und sie heulen nicht so herum wie du“, sagte sie.
Ich entgegnete ihr, dass ich sie in der Nacht im Schlag erwürgen werde. Sie strich mir mit dem Handrücken über die Wange.

Am nächsten Tag ging ich zu meinem Arzt. Der machte ein ratloses Gesicht und schickte mich sogleich zu einem anderen Arzt, der mich sogleich zu einem anderen Arzt schickte. Die Untersuchungen, die er vornahm, ließen mich vermuten, dass ich an einer Weltraummission teilnehmen sollte. Zwei Wochen später teilte er mir die Ergebnisse mit.

„Es ist, wie Sie sagen, Lindberg: Sie haben die ersten 25 Jahre Ihres Lebens vergessen“, sagte er.
„Für diese Erkenntnis habe ich Sie nicht bezahlt. Sagen Sie mir lieber, ob man was dagegen tun kann.“
„Im Gegenteil.“
„Was soll das heißen?“
„Dass sie nach und nach immer mehr vergessen werden.“
„Bitte was?“
„Manche Dinge kommen mit dem Alter oder besser gesagt: gehen mit dem Alter.“
„Berechnen Sie mir diesen Gag zusätzlich? Sagen Sie mir lieber, wann ich mein 26. Lebensjahr vergessen haben werde.“
„Das kann ich Ihnen nicht sagen.“
„Ich weiß gar nicht, wen ich beschissener finden soll: Sie oder meinen Gedächtnisverlust.“

Als ich die Praxis verlassen hatte, rief ich meinen Verleger an.
„Wir müssen reden“, sagte ich. „Morgen komme ich in Ihr Büro.“
Zuhause dachte ich lange nach.

„Was soll das heißen, dass Sie sich an die ersten 25 Jahre Ihres Lebens nicht mehr erinnern können?“
Der Verleger tobte.
„Das heißt, was es heißt.“
„Werden Sie nicht unverschämt, Lindberg. Wissen Sie, was das für Ihre Autobiografie bedeutet?“
„Dass 25 Jahre fehlen werden.“
„Dass sie wertlos ist.“
„Moment mal. Sie wissen genauso gut wie ich, dass mein Leben auch ohne die ersten 25 Jahre noch interessant genug ist, um ein ganzes Regal damit zu füllen. Und Sie wissen auch, dass Sie eine ganze Menge Geld damit verdienen werden, weil die Menschen sich um das Buch reißen werden. Aber wenn Sie nicht wollen – ich habe auch andere Angebote.“
„Aber Lindberg, so war es doch nicht gemeint. Sie müssen mich verstehen. Ich war nur etwas geschockt von Ihren Neuigkeiten.“
„Das heißt?“
„Natürlich wollen wir Ihre Memoiren veröffentlichen. Ich frage mich nur, wie wir dem Leser erklären wollen, dass die ersten 25 Jahre fehlen.“
„Ich fange einfach mit dem Satz an ‚Die ersten 25 Jahre meines Lebens zogen so ereignislos vorüber wie die norddeutsche Tiefebene während einer Bahnfahrt von Düsseldorf nach Flensburg.“
„Sie wissen, wie man es macht, Lindberg“
„Erzählen Sie mir etwas Neues.“
„In welchem Jahr beginnen Ihre Memoiren?“
„Oktober 2010.“
„Hervorragend. Wann setzen Sie sich an den Schreibtisch?“
„Noch heute. Schließlich werde ich noch mehr vergessen. Und bis dahin will ich alles aufgeschrieben haben.“
„Ich wünsche Ihnen alles Gute.“
„Fresse.“

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