Lindbergs Weltgeschichten (2)

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Lindberg lebt im Jahr 2060, ist 75 Jahre alt und berühmt und entschließt sich, seine Memoiren zu schreiben. Jeden Freitag veröffentlicht er hier ein weiteres Kapitel aus seiner Biografie. Heute befindet er, dass die Welt nicht mehr ohne ihn auskommt.

Kapitel 1 (Oktober 2010)

Die ersten fünfundzwanzig Jahre meines Lebens zogen so ereignislos vorüber wie die norddeutsche Tiefebene während einer Bahnfahrt von Düsseldorf nach Flensburg. Es ist nicht so, dass ich die Zeit vergessen hätte, ganz im Gegenteil. Doch ist sie von so bedrückender Monotonie, dass ich deren Schilderung selbst meinen Lesern, die zu den schlichtesten aller Gemüter zählen, nicht zumuten möchte. Im Grunde hätte ich die ersten fünfundzwanzig Jahre auch im Bauch meiner Mutter bleiben können. Die Biologie versagte es mir.

Dann jedoch, an einem Sonntag im Oktober 2010, wachte ich auf und der Regen prasselte gegen die Rollläden und ich beschloss, das Dorf meiner ereignislosen Kindheit zu verlassen. Zu lange hatte ich ertragen, wie andere Menschen ihre Ansichten in der Welt verbreitet und den Lauf der Dinge beeinflusst hatten, während ich mit meinen klugen Gedanken zuhause saß.

Berlin, London, New York. Das waren die Orte, zu denen ich wollte und an denen ich gebraucht wurde wie ein Schlagstock vorm Stuttgarter Hauptbahnhof. Ob ich es als Schriftsteller, Journalist oder Politiker zu etwas bringen sollte, darauf legte ich mich noch nicht fest. Von Unfähigkeit entstellte Menschlein konnte ich schließlich in allen Bereichen ersetzen.

Also legte ich ein paar Dinge in meinen Koffer, zog mir meine Regenjacke an und ging zur Bushaltestelle. Von dort wollte ich zum Bahnhof fahren. Ich setzte mich auf die Bank und zog ein Buch aus der Tasche. Der Regen klatschte auf den Holzverschlag. Damals lasen die Menschen noch „Der Fänger im Roggen“ von einem Kerl namens J.D. Salinger, obwohl es bereits 1951 veröffentlicht worden war. Wer im Jahr 2010 sagte, er habe noch nie von diesem Roman gehört, der musste im Germanistik-Proseminar fortan alleine sitzen.

Ich hatte mich jahrelang geweigert, es zu lesen, aber dann hatte es mir die Buchhändlerin empfohlen. Weil ich so beeindruckt war von ihrem Hinterteil, kaufte ich das Buch. In dem Roman geht es um einen 16-jährigen Jungen namens Holden, der keine Lust auf sein Internat hat und deshalb nach New York fährt und dort tagelang rein gar nichts erlebt. Weil Salinger schließlich merkt, dass nichts, aber wirklich gar nichts passiert ist, klatscht er noch ein Ende dran, das Holden zu einem verantwortlichen Erwachsenen werden lässt.

Ach Gott, wie ich den Kauf bereute, als ich an dieser Bushaltestelle saß. Ich schleuderte das Buch in den Regen und zog mein Notizheft heraus. In das schrieb ich jeden Tag Dinge, die es verdient hatten, dass ich sie hasste. An diesem Sonntag notierte ich „Der Fänger im Roggen“. Zuvor hatte ich „Umhängetasche“ geschrieben, „Helmut Kohl“ und „Soziale Netzwerke“. An Ideen mangelte es mir nie. Mein Verdienst war das nicht.

Eine ganze Weile wartete ich noch auf den Bus, bis mir einfiel, dass in meinem Dorf an Sonntagen überhaupt kein Bus fuhr. Wenn man „Warten auf Godot“ als Bauerntheater aufführen wollte, müsste man es bloß „Warten auf den Sonntagsbus in der Provinz“ nennen. Sonntag fiel den Leuten auf dem Land immer besonders auf, wie langweilig es dort war. Da wollten ihnen die Verkehrsbetriebe die Flucht nicht noch erleichtern. Dabei waren die meisten sowieso mit dem Auto zu Verwandten gefahren, die sie nur deshalb besuchten, weil sie die anderen Verwandten schon am vorherigen Sonntag besucht hatten.

Fluchend ging ich nach Hause zurück, warf meinen Koffer und die Jacke auf den Boden und ließ mich aufs Bett fallen. Die Welt musste noch einen Tag ohne mich auskommen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden