Mein Leben mit dem Kapitalismus

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Ich möchte mit Pfandflaschen die Welt retten. Außerdem erzähle ich, welche Produkte ich boykottiere und was mit unartigen Gewerkschaftern passiert.

Ich bin skeptisch, was den Kapitalismus betrifft. In regelmäßigen Abständen versetze ich ihm feine Nadelstiche, um ihn daran zu erinnern, dass er für den Menschen da ist und nicht umgekehrt. Dass ich damit zur Abschaffung des Kapitalismus beitrage, nehme ich in Kauf.

Das mit den Nadelstichen funktioniert folgendermaßen: Wenn ich so viele leere Pfandflaschen auf dem Fußboden meiner Küche gesammelt habe, dass ich sie nicht mehr betreten kann, stopfe ich sie in mehrere große Plastiktüten und schleppe sie in den einzigen Supermarkt in meiner Nähe, der einen Pfandautomaten hat. Den Großteil der Flaschen habe ich nicht dort gekauft, das ist Teil des Plans.

Dann werfe ich die Flaschen in den Automaten. Auf der anderen Seite fallen sie in einen großen Plastiksack. Wenn der Sack voll ist, ertönt ein Alarm, und ein Mitarbeiter muss seine Arbeit unterbrechen und quer durch den Laden zum Automaten laufen. Das heißt, er muss die Festigung des Kapitalismus unterbrechen, zum Beispiel Milch einräumen oder Paletten fahren, und den Sack auswechseln. Der Mitarbeiter macht stets ein leicht genervtes Gesicht. Da ich immer sehr viele Flaschen dabei habe, löse ich fast jedes Mal den Alarm aus.

Ich habe weitere Nadelstiche im Repertoire. Ich boykottiere mehrere Großunternehmen. Ich boykottiere eine Fast-Food-Kette mit Filialen in der ganzen Welt. Ich boykottiere einen populären Soft-Drink-Hersteller. Ich boykottiere eine Supermarktkette, die so berüchtigt ist, dass sie ein eigenes Schwarzbuch hat. Und ich boykottiere einen großen Lebensmittelhersteller, der von Eistee bis Tiefkühlpizza alles herstellt.

Die Gründe für meinen Boykott reichen von „An Tod von Gewerkschaftern beteiligt“ bis „Menschenunwürdige Bezahlung von Mitarbeitern“. Ich habe sie zum Teil nur aufgeschnappt, auf jeden Fall niemals überprüft. Es ist wie bei jedem Protest. Entscheidend ist, dass er sich richtig anfühlt, nicht, dass er richtig ist.

Ich bin aber nicht konsequent. Ich esse bei anderen weltweit operierenden Fast-Food-Ketten. Ich trage Kleidung, die in der Dritten Welt hergestellt wird. Ich kaufe in Supermärkten ein, hinter denen ebenfalls riesige Unternehmen stehen. Schlecht fühle ich mich nicht dabei.

Das führt mich zu der Frage, wie viel Spaß mir meine Politik der Nadelstiche lassen muss. Wenn ich alles aufgebe, an dem ich Freude habe, weiß ich doch gar nicht mehr, wofür ich das mache. Eine Freundin von mir hat jemanden kennengelernt. Er engagiert sich für eine Partei, die skeptisch ist, was den Kapitalismus betrifft. Während einer Parteisitzung schrieb er ihr eindeutige Kurzmitteilungen. Dafür aber vernachlässigte er das Treffen seiner Partei, also die Skepsis gegenüber dem Kapitalismus.

Soll ich das verurteilen? Er hatte Spaß daran, meine Freundin auch – zwei Menschen fühlten sich gut. Und auf einen Zustand hinzuarbeiten, in dem sich die Menschen gut fühlen, ist ja auch Ziel der Kapitalismusskeptiker. Ist der Weg zum Sich-gut-fühlen wirklich so wichtig? Es muss auch mal mit anzüglichen Kurzmitteilungen gehen.

Der Supermarkt, zu dem ich meine Pfandflaschen bringe, hat zurückgeschlagen. Bei meinem jüngsten Besuch klebte ein Schild neben dem Automaten: „Annahme von Flaschen nur noch in haushaltüblichen Mengen (nicht mehrere Müllsäcke).“ Da es in meinem Ort keine Obdachlosen gibt, die Pfandflaschen sammeln, wusste ich sofort: Das war gegen mich gerichtet und meine Politik der Nadelstiche. Das System hatte zurückgeschlagen.

Ich werde weiterkämpfen. Weil ich sowieso keine Chance habe.

Dieser Text ist Teil meiner Kolumne "About a Boy", die jeden Freitag bei RP Online erscheint. Mehr Folgen gibt es hier.

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