Meine Kindheit ergibt doch keinen Sinn

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Ich finde einen Slogan für eine norddeutsche Universität und versuche, mir meine Kindheit schlecht zu reden. Außerdem gestehe ich, wer mich früher verprügelt hat.

Ich habe immer gewusst, dass es für etwas gut ist, sich mit dem Kopf in die Toilettenschüssel stecken zu lassen.

In der vergangenen Woche bekam ich Post von der Universität Kiel. Die Universität Kiel hatte in großen Zeitungsanzeigen dazu aufgerufen, einen Slogan für sie zu finden. Ich hatte mich beteiligt.

In dem Brief schrieb der Präsident der Uni: „Herzlichen Glückwunsch! Der von Ihnen vorgeschlagene Slogan ist von einer Jury in den Kreis der drei besten Slogans aufgenommen worden.“

Ich sprang in die Luft, schlug die Hacken zusammen und rief „Jippie“. Endlich hatte ich in einem Wettbewerb etwas erreicht, bei dem es nicht auf Glück ankam. Ich bin mir sicher, dass mein Slogan „Zusammen auf Kurs“ die anderen beiden im Finale besiegen wird.

Einer lautet „Wo aus Forschung Zukunft wird“. Das ist sperrig und außerdem macht es genauso viel Sinn wie „Wo aus Zukunft Forschung wird“, das ist nie ein gutes Zeichen. Der andere Slogan „Exzellenz im Norden. Seit 1665“ klingt nicht nur wie eine Bierwerbung, sondern war auch eine Idee der Jury. Welche Uni steckt schon einige zehntausende Euro in einen Wettbewerb, um einen Slogan zu finden, und nimmt dann den eigenen?

Dieser Erfolg macht es mir endlich möglich, meiner Kindheit einen Sinn zu geben. Dass es doch gut war, dass sie genauso war.

Meine Kindheit habe ich so in Erinnerung: Ich hatte die tollen Noten, die anderen Jungs die tollen Klamotten und die tollen Freundinnen. Wenn ich die anderen Jungs nicht abschreiben lassen wollte, steckten sie mich mit dem Kopf in die Toilettenschüssel, weil ich sie nicht abschreiben lassen wollte. Wenn ich sie abschreiben ließ, steckten sie mich mit dem Kopf in die Toilettenschüssel, weil ich die tollen Noten hatte. Ansonsten beließen sie es bei roher Gewalt. Kam ich je ohne offene Wunden und blaue Augen nach Hause? Niemals.

Da konnte ich mich ja nur in meine Höhle der Einsamkeit zurückziehen und Intellektueller werden. Schriftsteller, Journalist, Sloganerfinder. So was eben. Nun ergibt alles einen Sinn. Der Misserfolg von damals war die Grundlage für den Erfolg heute. Die Coolen von damals sind die Arbeitslosen von heute, die Uncoolen von damals die Helden.

Vor einigen Tagen habe ich meine alten Zeugnisse auf dem Dachboden wiedergefunden. Ich bin auf Dinge gestoßen, die nicht so ganz zu meinem Selbstbild passen. Gar nicht mal so wenige Vieren, sogar in Deutsch, in Sport viel besser, als es sich für einen Büchermenschen wie mich gehört.

Und dann gestand ich mir selbst, dass ich nie mit dem Kopf in die Toilette gesteckt worden bin. Richtig verprügelt worden bin ich nur einmal und zwar von einem Mädchen in der vierten Klasse. Das war bitter. Ich hatte auch immer Freunde. Gut, ich konnte kein Stadion mit ihnen füllen, aber es waren genug für eine Geburtstagsparty. Ich glaube, ich habe sogar Mädchen geküsst.

Diese Erkenntnis entsetzte mich einigermaßen. Meine Leidensgeschichte hatte sich plötzlich in ein durchschnittliches Aufwachsen in der Provinz verwandelt und es war damals gar nicht so klar, dass ich mir mal den Slogan für die Uni Kiel ausdenken würde. Ich hätte genauso gut Möbelverkäufer oder Astronaut werden können. Wozu hatte ich überhaupt eine Kindheit?

Ein schlimmer Verdacht beschleicht mich: Entweder hat die Kindheit keine Auswirkung auf den späteren Erfolg oder aber mein Slogan ist nur deshalb durchgekommen, weil die Mitglieder der Jury genauso durchschnittlich aufgewachsen sind wie ich und deshalb genau auf meiner Wellenlänge lagen, während die anderen Teilnehmer allesamt in der Kindheit verprügelte Intellektuelle waren, mit deren Sprüchen die Jury nichts anfangen konnte. Mein Gott.

Dieses Mädchen hatte Pranken wie ein Bär. Sie schlug wie zwei Kerle. Ehrlich. Ich kann die Narben noch zeigen.

Dieser Text ist Teil meiner Kolumne "About a Boy", die jeden Freitag bei RP Online erscheint. Mehr Folgen gibt es hier.

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