Nächste Endstation Dschungelcamp (Lindberg 16)

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Lindberg lebt im Jahr 2060, ist 75 Jahre alt und berühmt und entschließt sich, seine Memoiren zu schreiben. Jeden Freitag veröffentlicht er hier ein weiteres Kapitel. Diesmal erzählt er allerdings aus seiner Gegenwart von einem Freund im Dschungelcamp.

2060

Ich lehne an meinem Auto und warte darauf, dass Paul aus dem Gefängnis kommt. Paul ist 68 und seit 20 Jahren mein Nachbar. Ausgenommen die vergangenen fünf. Ich habe ihn trotzdem regelmäßig besucht und ihm immer Marmorkuchen mitgebracht und Cherry-Cola.

Nach zehn Minuten Warten öffnet sich das Tor und Paul tritt heraus. Er trägt einen verwaschenen blauen Trainingsanzug und braune Schlappen. In der Hand hält er eine Sporttasche.

„Hallo Lindberg.“
„Hallo Paul.“

Wir umarmen uns.

„Danke fürs Abholen.“
„Ich hatte sowieso gerade nichts zu tun.“
„Wo sind denn die Leute von der Presse?“
„Welche Leute von der Presse?“
„Na die mich fotografieren wollen, weil ich wieder aus dem Gefängnis gekommen bin.“
„Ich habe niemanden gesehen.“
„Sicher?“

Ich nicke.

„Los, lass uns fahren“, sage ich.
„Können wir noch fünf Minuten warten? Vielleicht hat mein Manager ihnen die falsche Uhrzeit gegeben.“
„Meinetwegen.“

***

Es war vor sechs Jahren, als sich Paul zu mir in die Gartenlaube setzte. Er öffnete sich ein Bier, nahm einen Schluck und sagte dann: „Lindberg, ich gehe ins RTL-Dschungelcamp.“
„Bitte was?“
„Du hast mich schon verstanden. Ich hab mir das gut überlegt. Wirklich.“
„Aber ins Dschungelcamp gehen doch nur abgehalfterte Ex-Schauspieler und Ex-Spielerfrauen.“
„Ich bin ein Ex-Kinderstar. Schon vergessen?“

Im Gegenteil. Ich erinnerte mich sehr. Zwischen seinem elften und neunzehnten Lebensjahr hatte Paul sechs Platten aufgenommen und in mehr als zehn großen Filmen die Hauptrolle gespielt. Alles, was er machte, war ein riesiger Erfolg und es verging kein Tag, an dem ich ihn nicht im Fernsehen sah. Und dann, ohne dass es irgendeine Erklärung gab, lief nichts mehr, und Paul ging den Weg, den jeder Promi ging, den die Leute nicht mehr wollten: Nebenrolle in ZDF-Vorabendkrimis, Verkaufsfernsehen, Entzugsklinik. Zwar hatte er so viel Geld verdient, dass er es gar nicht alles verprassen konnte und weiterhin ein einigermaßen abgesichertes Leben führte, aber die Zeit an der Sonne war vorbei.

„Verstehst du, Lindberg, ich will noch mal ins Rampenlicht, noch einmal Autogramme schreiben, noch einmal auf den Titelseiten stehen.“
„Paul, du bist 62. Such dir ein Hobby, züchte Rosen, fahr in die Schweiz.“
„Das kann ich später immer noch. In vier Wochen geht es nach Australien.“
„Das musst du selbst wissen.“

***

„Können wir jetzt fahren. Ich glaube, da kommt heute kein Fotograf mehr.“
„Das kann überhaupt nicht sein“, sagt Paul. „Ich rufe mal kurz meinen Manager an.“
„Okay, aber hau rein.“

Er spricht in sein Handy: „Ja… Pierre, bist du das? Sag mal, hast du den Fotografen Bescheid gesagt, wann ich aus dem Gefängnis entlassen werde? Hast du? Okay. Es ist nämlich keiner gekommen… du meinst, sie kommen direkt zu meinem Haus? Ich hoffe, du hast Recht.“

Er steckt sein Handy wieder in die Tasche.
„Okay, wir können fahren.“
„Wurde auch Zeit.“

***

Ich saß gerade in meiner Gartenlaube und probierte die neue Weinlieferung, als meine Frau mich störte.
„Schwing deinen Arsch ins Wohnzimmer. Paul hat eine Geisel genommen.“
„Das musste ja so kommen“, sagte ich und stand auf.

Die erste Woche im Dschungelcamp hatte Paul gut überstanden. Er hatte sich problemlos in die Gruppe eingefügt, machte ab und zu einen lustigen Spruch und bestand seine Dschungelprüfung. Außerdem zickte er nicht rum. In der zweiten Woche aber wurde jeden Tag ein Kandidat aus dem Camp gewählt, und ich sah die Anspannung in Pauls Gesicht. Und die Erleichterung, wenn ein anderer rausflog.

Als es ihn erwischte, drehte er durch.

Er zückte einen Stein, den er die Woche über geschliffen hatte, presste den Ex-Schlagerstar an sich und drückte der Frau den Stein an die Kehle.
„Keiner bewegt sich, sonst stirbt hier jemand.“

Als ich mich vor den Fernseher setzte, hatte er sich mit seiner Geisel auf eine Anhöhe zurückgezogen. Sie saßen auf dem Boden. Die beiden Moderatoren und die anderen Kandidaten sahen zu ihnen hinauf. Keiner wagte, etwas zu sagen.

Bis der Moderator rief: „Was willst du damit erreichen, Paul? Das bringt doch nichts.“
„Ich lasse sie nur laufen, wenn ich weiter im Camp bleiben darf.“

Wir hockten den ganzen Abend vorm Fernseher. Als wir ins Bett gingen, saß er noch immer mit seiner Geisel auf der Anhöhe. Polizisten waren eingetroffen, griffen aber nicht ein.

Am nächsten Morgen schaltete ich den Fernseher wieder ein. Da saß Paul bereits in Haft. Er war einfach eingeschlafen und die Geisel war geflohen. Alle Medien berichteten in großen Schlagzeilen über den Prozess.

***

„Was willst du denn jetzt machen?“, fragte ich, als wir im Auto saßen.
„Ach, da mache ich mir keine Sorgen. Erstmal stehen ein paar Fernsehinterviews an, und ein Buch über meine Zeit im Gefängnis ist auch in Vorbereitung. Ich habe einige sehr interessanten Sachen zu berichten.“
„Was denn?“
„Ach, das kann ich jetzt so spontan nicht sagen. Auf jeden Fall ist eine Menge passiert.“
„Na dann.“

Als ich auf unsere Straße einbog, hielt er die Luft an.
„Mmm, wo sind denn die Fotografen? Vermutlich hat Pierre sie schon ins Haus gelassen und macht ihnen Kaffee.“

In diesem Moment erinnerte ich mich daran, wie Paul die Gartenlaube verlassen hatte, nachdem er mir von seinem Entschluss erzählt hatte, ins Dschungelcamp zu gehen. Er hatte sich noch einmal zu mir umgedreht und gesagt: „Lindberg, wenn ich es im Dschungelcamp nicht schaffe, dann schaffe ich es überhaupt nicht mehr. Verstehst du?“

Ich wollte etwas erwidern, aber dann brachte ich es nicht übers Herz.

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