Berghain: Alle wollen alles in der Exzess-Kaserne

Neoliberalismus Lexikon der Leistungsgesellschaft: Es gibt einen Club in Berlin, da wird die 40-Stunden-Party zum Antidot gegen die 40-Stunden-Woche
Ausgabe 06/2019
Selbst zum Konzert von Kylie Minogue war die Schlange vor dem Berghain nicht so lang wie an manchem sommerlichen Clubwochenende
Selbst zum Konzert von Kylie Minogue war die Schlange vor dem Berghain nicht so lang wie an manchem sommerlichen Clubwochenende

Foto: Votos-Roland Owsnitzki/Imago

Es gilt als einer der besten Technoclubs der Welt: das Berghain in Berlin. Es ranken sich Mythen darum, was sich hinter den sozialistisch-klassizistischen Mauern eines alten Kraftwerks nahe dem Ostbahnhof abspielt. Es gibt unzählige Antworten auf die Frage, wie man es schafft, an der angeblich härtesten Tür der Stadt nicht abgewiesen zu werden. Viele derer, die reinkommen, sehnen sich nach einer Auszeit, nach einem Wochenende im Club, um vor der Realität zu flüchten. Die Tür als Schwelle in eine andere Welt. Das Berghain ist mehr als ein Technoschuppen; es ist ein Symbol für den Wunsch nach Weltflucht einer knietief im neoliberalen Sumpf stecken gebliebenen Generation, die nie die Hoffnung auf eine Utopie aufgeben musste, weil sie nie eine wirkliche hatte, die aber nach immer neuen Orten sucht, den Überschuss des im Alltag nicht Auslebbaren zu kompensieren.

Drin zählt nur eines: Exzess, das Diesseits jenseits der Schwelle ist vergessen. Der Club erscheint als Gegenort, wo niemand brav vor dem Chef kuschen, sich nicht an lästigen Konventionen der Arbeitswelt orientieren muss. Hier spielen Aktienkurse, Befristungsketten, miese Löhne keine Rolle. Hier ziehen Broker, Prekäre, Verdammte des 21. Jahrhunderts einen klaren Trennstrich – die Frage nach dem Arbeitsplatz stellt hier niemand, die Gäste befolgen das strikte Fotoverbot, um die Distanz zur Welt außerhalb der Mauern künstlich noch zu vergrößern. Eine ungehemmte 40-Stunden-Party statt der entgrenzten 40-Stunden-Arbeitswoche.

Hier im Berghain ist nichts kompliziert, gibt es keine Selbstzweifel, die an einem nagen und den Schlaf rauben. Hier sind alle freiwillig schlaflos, tanzen zu kompromisslos-gradlinigem Techno. Nirgends Fragezeichen, überall Ausrufezeichen. Alle reden, aber keiner hört zu. Die saubere Realität unter der Woche weicht dem Schmutz. Kotzbrocken verstopfen Pissrinne und Klos, triefende Menschen mit größtmöglichen Pupillen laufen sich in die Arme, die Darkrooms sind prall gefüllt. Auf den Gummipolstern der Separees vermischt sich Speichel mit anderen Körperflüssigkeiten.

Doch Montagmittag geht das Licht an, hört der Beat auf. Dann dämmert es den Ersten, dass sie nicht so umwerfend aussehen, wie sie sich fühlen. Im Gesicht der anderen erkennen sie die Spuren des Schlafentzugs. Dann, erstes Tageslicht, das Aufeinandertreffen mit der Wirklichkeit, mit der doch niemand mehr etwas zu tun haben wollte. Die Berufstöchter und -söhne lassen sich von Nobelkarossen abholen, die Broker spendieren den Prekären ein Taxi, die Verdammten schlappen einsam nach Hause und treffen auf die, die gerade auf dem Weg zur Mittagspause sind, Verkäuferinnen in der Bäckerei, Schüler in der Bahn. Ein trauriger Blick aus dem S-Bahn-Fenster, der Körper bewegt sich noch im Takt, als wolle er nicht akzeptieren, dass die Flucht erfolglos war, die Realität wieder mal schneller sein wird.

Auf den Höhenflug der vergangenen Stunden folgt unweigerlich der Absturz, auf den Endorphinüberschuss der tendenzielle Fall der Serotonin-Rate. Doch diese Schwermut ist nicht nur drogeninduziert, etwas Grundsätzliches hämmert an die Schädeldecke. Spätestens unter der Dusche, wenn die Schweiß-Chemie-Zigarettenrauch-Kruste von der Haut geschrubbt ist, kommt die bittere Erkenntnis, dass das Berghain kein Gegenort, sondern lediglich die andere Seite derselben Medaille ist, ein Ort des kasernierten Exzesses.

Hier wie dort zählt das Gleiche: Alle wollen alles auf einmal, sich nicht mit dem Mittelmaß zufriedengeben, sich noch nicht einmal von den Grenzen des Körpers aufhalten lassen. Die eine Welt braucht die andere. Am nächsten Tag heißt es dann wieder: abliefern – bis zur nächsten Möglichkeit, dem deprimierenden Hier und Jetzt zu entfliehen, zumindest für ein paar Stunden.

Sebastian Friedrich ist Journalist und führt in dieser Kolumne sein 2016 als Buch erschienenes Lexikon der Leistungsgesellschaft fort, welches veranschaulicht, wie der Neoliberalismus unseren Alltag prägt

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