Geht es um den Neoliberalismus im Alltag, drehen sich die Themen häufig um Burn-out-Ängste junger Kreativer oder um Selfcare-Methoden der Personal Coaches. Die andere Seite der Medaille ist das Leben derer ganz unten. Für eine wachsende Zahl an Menschen gibt es selbst in den reichen Staaten auf dem regulären Arbeitsmarkt keinen Platz mehr. Sie hangeln sich von Kleinst- zu Kleinstjob, teilen sich mit mehreren ein Zimmer oder müssen auf der Straße schlafen. Der Staat macht ihnen das Leben schwer, indem er ihre Armut kriminalisiert.
Genau darauf läuft jetzt der Entwurf des Bundesfinanzministeriums für ein „Gesetz zur Bekämpfung von Missständen am Arbeitsmarkt, illegaler Beschäftigung sowie von Kindergeld- und Sozialleistungsmissbrauch“ hinaus. Er sieht etwa vor, den Tagelöhnermarkt zu verbieten. Menschen dürften dann nicht mehr mit anderen an einem bestimmten Ort ihre Arbeitskraft als Tagelöhner anbieten. Ihnen drohen Platzverweise und Bußgelder von bis zu 5.000 Euro.
Die Straßenecke ist für Tagelöhner oft die letzte Chance. Viele von ihnen sind von Leistungen wie Hartz IV ausgeschlossen. Die meisten sind zwar EU-Bürger, haben aber trotzdem keinen Anspruch, etwa weil sie keinen formellen Arbeitnehmerstatus haben oder ihnen die nötigen Nachweise fehlen.
Offiziell möchte das Finanzministerium mit dem Gesetz die Organisierte Kriminalität bekämpfen. Ein Irrglaube, wie ein Blick in die Studie Arbeit! Wohnen! Urbane Auseinandersetzungen um EU-Migration zeigt, die gerade bei Edition Assemblage erschienen ist. Die Anthropologin Lisa Riedner hat jahrelang Tagelöhner in München begleitet. Ihr Ergebnis: Sie organisieren sich an den bekannten Straßenecken selbst, um Infos auszutauschen, informelle Mindestlöhne zu besprechen oder schlicht, um sich vom langen Warten abzulenken. Selbst ein leitender Beamter der Finanzkontrolle Schwarzarbeit, den Riedner zitiert, interessiert sich nicht für die Tagelöhner. Das große Geschäft ist für die Organisierte Kriminalität nur im größeren Maßstab zu machen, die Tagelöhner sind da Peanuts. Mittlerweile hat der Bundesweite Koordinierungskreis gegen Menschenhandel dem Finanzministerium empfohlen, das Tagelöhner-Verbot zu streichen.
Die Armut scheint für Olaf Scholz’ Haus weniger das Problem zu sein; eher sind es die Armen selbst – letztlich würde das Gesetz die Tagelöhner noch größerem Druck aussetzen beim Versuch, über die Runden zu kommen.
Kommentare 3
Warum wundert mich das nicht bei diesem Herrn? Und warum liegt mir immer auf der Zunge ihn spätestens nach seinem Agieren beim G20 Gipfel in Hamburg Gustav Noske zu nennen? Ich muss da was verwechslen?! Wer hat uns verraten?...
Es ist ähnlich wie bei der Krankenversicherung: Immer mehr Menschen – selbst tagesschau.de spricht von potenziell mehreren Hunderttausend – werden aus dem System aussortiert. Das Perfide auch hier: Schuld sind nicht die Verbrecher, die derartige Schlupflöcher konstruieren. Zusätzlich werden die Menschen, denen das System (ergo die Politik) dieses elementare Recht vorenthält, auch noch kriminalisiert. respektive vom Staat bis auf den letzten Cent in der Tasche ausgeplündert – im schlimmsten (aber vermutlich nicht soooo seltenen) Fall, indem das Geld für die Chemo, die aus eigener Tasche bezahlt wird, vom Konto weggepfändet und den leistungsverweigernden Versicherungsträgern zugeschanzt wird. Oder, wir bewegen uns – nach Definition des neoliberalen Verbrecherstaats – schließlich im Bereich krimineller Handlungen, also des Strafrechts: Indem Herr X oder Frau Y in den Bau wandert, wo er oder sie die letzten Lebensmonate verbringen kann.
So auch hier: Nicht die Tagelöhnerei – respektive die sklavereiähnlichen, entwürdigenden Arbeitsbedingungen sind das Problem, sondern die, die sich diesem System notgedrungen unterwerfen müssen. Eine typische »Problemlösung« à la SPD, für die sich Scholz ins Zeug legt: Schuld ist nicht die Armut, sondern vielmehr die Armen. Wie beim Hartz-IV-System: Wenn man die genügend drangsaliert, »löst« sich das Problem auch.
Idealerweise auf die natürliche Weise – durch Abkratzen.
So kriminalisiert Scholz die Opfer der Armut in dieser "freien Marktwirtschaft der Starken" !
Das ist die würdelose Politik eines Sozialdemokraten?