Der vielleicht nahende heiße Herbst gegen kalte Wohnungen hält Journalisten, Politikerinnen und Sicherheitsbehörden in Atem: Kommt es zu linken Protesten? Oder droht eine rechts offene bis offen rechte Pegida-Neuauflage? Gebannt blicken nonkonformistische Protest-Enthusiasten wie defätistische Bedenkenträger auf die Mobilisierungen für den 5. September in Leipzig, wo der Linken-Politiker Sören Pellmann an die Montagsdemos gegen die Hartz-Reformen 2004 anknüpfen will. Rechtsradikale wie die Freien Sachsen, der AfD-Bundestagsabgeordnete René Springer und Jürgen Elsässer vom faschistischen Compact-Magazin reiben sich die Hände, rufen direkt oder indirekt zur Beteiligung auf.
Aber jenseits von Leipzig und hypothetischen Debatten über den Charakter möglicher Demonstrationen gibt es bereits Anti-Inflations-Proteste! Nur scheint die konkrete Realität weniger interessant als Blicke in die Glaskugel.
Im Norden kämpft Verdi für rund 12.000 Beschäftigte der Häfen in Bremen, Hamburg und Niedersachsen um einen Tarifvertrag, der einen tatsächlichen Inflationsausgleich vorsieht. Der Konflikt dauert schon Wochen an und führte zu Demonstrationen mit mehreren tausend Menschen, zu prügelnden Polizisten – und zu Solidarisierungen von Linken: Das linkstrotzkistische Medienprojekt Klasse gegen Klasse berichtet intensiv über den Arbeitskampf und bietet den Streikenden eine Bühne, die ihnen etablierte Medien verwehren.
In Bremen hat sich ein Bündnis gegen Preiserhöhungen formiert: Am 20. August kamen zu einer Kundgebung in Bremen-Gröpelingen zwar noch keine Massen, aber es gelang, Menschen aus dem Stadtteil anzusprechen. In Gröpelingen leben viele Menschen, deren Sorge um das Monatsende im Herbst und Winter zunehmen dürfte. Zu den Organisator*innen in Bremen zählt die linksradikale „Basisgruppe Antifa“, die auf Offenheit setzt und via Twitter zum Vorbereitungstreffen für die nächste Kundgebung einlädt.
In Berlin demonstrierte am 17. August das linke Umverteilungsbündnis „Wer hat, der gibt“ vor der FDP-Zentrale für einen Gaspreisdeckel, eine Übergewinnsteuer und die Fortsetzung des 9-Euro-Tickets. Das bewirkte, dass Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) im ARD-Sommerinterview mit den Forderungen konfrontiert wurde. Das sind Anfänge – aber konkrete. Sie zeigen: Linke Proteste können über den eigenen Dunstkreis hinaus wirksam sein. Rechte belassen es bisher bei Träumen von einem zweiten Pegida-Winter.
Die Wahrheit ist immer konkret. Das heißt: Konkrete politische Aufgaben ergeben sich in konkreten Situationen. Einige Linke haben das erkannt.
Sebastian Friedrich ist Journalist und führt in dieser Kolumne „Lexikon der Leistungsgesellschaft“ sein 2016 unter diesem Titel erschienenes Buch fort, welches mitunter veranschaulicht, wie der Neoliberalismus unseren Alltag prägt.
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