Ein Wort geht Alexander Gauland am Wahlabend besonders häufig über die Lippen: bürgerlich. Nicht nur in Fernsehstudios betont er, wie wahnsinnig bürgerlich seine Partei sei. Auch auf der Wahlparty der Brandenburger AfD nimmt er dieses Adjektiv mehrmals in den Mund – nebst der eindringlichen Bitte, sich im Siegestaumel vernünftig zu benehmen, „wie es eine bürgerliche Partei tut“. Aus dieser mantraartigen Beschwörung des Bürgerlichen lässt sich der Hauch eines Zweifels ablesen, dass seine AfD nicht doch irgendwann abrutschen könnte ins, wie Gauland es nennen würde, Unvernünftige.
Was Gauland für durchaus vernünftig und bürgerlich hält, wird an diesem Abend einmal mehr klar. Er lässt bei seinen diversen Fernsehauftritten keine Gelegenheit aus, sich schützend vor seinen politischen Zögling Andreas Kalbitz zu stellen. In den Tagen vor der Wahl waren neue Details der politischen Biografie des Brandenburger AfD-Chefs ans Tageslicht gekommen. Von einer Teilnahme bei einem Camp der völkischen Heimattreuen Jugend 1993 ist die Rede und von einer Reise zu einem Neonazi-Aufmarsch nach Athen – gemeinsam mit NPD-Größen. Überzeugende Distanzierungen blieb Kalbitz bislang schuldig.
Im Gegenteil: Etwa zur gleichen Zeit, als Gauland auf der AfD-Wahlparty spricht, nimmt Kalbitz in der Nähe des Landtages in Potsdam ein kurzes Video für die sozialen Medien auf. Darin dankt Kalbitz dem extrem rechten Verein „Ein Prozent“, der der Identitären Bewegung nahesteht. Die Grußbotschaft endet mit den Worten: „Gemeinsam sind wir stark, gemeinsam haben wir das erreicht – und noch viel mehr.“ Die Betonung des Gemeinsamen ist ein Fingerzeig, dass die AfD eben vor allem eines ist: eine „Bewegungspartei“, die den Schulterschluss zu extrem rechten Initiativen sucht. Allen offiziellen Abgrenzungen etwa zur Identitäten Bewegung zum Trotz.
Ein Drittel des Weges
Was mit dem noch „viel mehr“ gemeint sein könnte, macht zwei Stunden später – ebenfalls exklusiv über die Kanäle von „Ein Prozent“ – die Nummer zwei der Landesliste in Brandenburg deutlich: Christoph Berndt spricht ganz besonnen davon, dass die anderen Parteien nur noch etwa zwei Drittel der Wähler repräsentierten – „ein Drittel des Weges haben wir also bereits zurückgelegt“. Nicht die relative, nicht einmal die absolute Mehrheit ist also das Ziel – sondern die totale. Die 27,5 Prozent in Sachsen und die 23,5 Prozent in Brandenburg sollen nur ein Zwischenschritt sein.
Am Tag nach den Wahlen sitzt Gauland im großen Saal der Bundespressekonferenz und betont wieder einmal, wie bürgerlich seine Partei und Andreas Kalbitz seien. Als nicht bürgerlich hingegen kategorisiert Gauland Doris von Sayn-Wittgenstein aus Schleswig-Holstein, die wenige Tage zuvor aus der Partei geschmissen worden war. Gauland kritisiert die „falsche Fürstin“ nicht inhaltlich. Die als Querulantin verschriene Sayn-Wittgenstein ist für den völkischen Flügel um Björn Höcke und Kalbitz ein verzichtbares Bauernopfer, um diejenigen, die sich zumindest rhetorisch um eine Abgrenzung bemühen, zu beruhigen.
Ob bürgerlich oder nicht, die AfD ist nunmehr eine im Kern rechtsextreme Partei – im Kern, weil der Flügel mittlerweile den Takt vorgibt.
Das ist das vorläufige Resultat einer Entwicklung, die sich bisher in drei Akten abgespielt hat. Der erste endete im Sommer 2015, als Bernd Lucke samt Gefolgsleuten die Partei verließ. Damit waren die Weichen zwar gestellt, aber der eigentliche Konflikt zwischen Völkischen und Restkonservativen noch nicht ausgetragen. Es folgte der zweite Akt – Spannungsaufbau. Frauke Petry wollte zwischen 2015 und 2017 die Macht ganz alleine, wobei ihr immer mehr ein Akteur in die Quere kam, mit dem sie vorher noch gemeinsame Sache gemacht hatte, um Lucke abzuservieren: der völkisch-nationalistische „Flügel“ um Björn Höcke. Petry musste gehen. Der Flügel ist stark wie nie.
Zugleich drängt die Zeit: Höcke und Co. wissen, dass ihr großes Thema „Flüchtlinge“ immer weniger die politischen Debatten bestimmt, auch wenn die AfD krampfhaft versucht, jede Debatte immer wieder darauf umzulenken.
Deshalb lässt der Flügel die Muskeln spielen. Anfang Juli attackierte Höcke beim Kyffhäusertreffen des Flügels den Bundesvorstand frontal und versprach, dass dieser in seiner aktuellen Zusammensetzung nicht noch einmal gewählt werde. Die Neuwahl steht am ersten Adventswochenende in Braunschweig an. Für den Flügel könnte der Termin kaum besser liegen. Drei Monate nach den Wahlen in Sachsen und Brandenburg und nur einen guten Monat nach den wohl ähnlich erfolgreichen Wahlen in Thüringen werden die Flügel-Anhänger vor Kraft kaum laufen können.
Hinzu kommt: Aus der anfänglichen qualitativen Stärke des Flügels ist nun auch eine quantitative geworden. Von Anfang an wussten die Kader, wie sie auch mit einer zahlenmäßigen Minderheit eine Partei auf Kurs bringen können. Mittlerweile steigt mit jedem Austritt auf der Gegenseite und jeder parteiinternen Wahl auch der Anteil der Flügel-Vertreter. Dennoch plädiert der Flügel für einen Delegiertenparteitag in Braunschweig: Sie vertrauen auf die Stärke, die sie bei Delegiertenwahlen ausspielen können. Die gesamte Mitgliederschaft haben sie noch nicht im Griff. Das gilt freilich nicht für die ostdeutschen Bundesländer, wo der Flügel fest im Sattel sitzt. Im Westen gibt es etwa in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg seit Jahren Auseinandersetzungen zwischen Vertretern des Flügels und jenen, die aus strategischen Gründen eher um Mäßigung in der Rhetorik bemüht sind.
Eine nennenswerte Kraft, die dem Flügel etwas entgegensetzen könnte, gibt es nicht. Alle bisherigen Versuche, ihn in die Schranken zu weisen oder zumindest ein Gegengewicht aufzubauen, sind krachend gescheitert. Die Alternative Mitte, 2017 gegründet mit dem Ziel, die sich gemäßigter Gebenden zu sammeln, floppte. Zuletzt verpuffte eine Erklärung, die etwa 100 AfD-Mitglieder unterschrieben haben. Sie störten sich nicht an den Inhalten des Flügels, sondern an dessen Auftreten. Schließlich dürften alle AfD-Mitglieder vor Augen haben, was mit Abtrünnigen passiert, wenn sie der AfD den Rücken kehren: Lucke lehrt ab dem Wintersemester wieder an der Universität Hamburg. Petry kämpfte bei den Landtagswahlen in Sachsen um ihr politisches Überleben. Am Ende reichte es für ihre blaue Partei zu 0,36 Prozent.
Die Rolle Alice Weidels
Alles in allem eine sehr gute Ausgangslage für die nächsten Episoden des Richtungskampfes also. Vor einigen Monaten noch sah es so aus, als würde der Flügel einen eigenen Kandidaten ins Rennen schicken, damit an der Spitze der Partei eindeutige Flügel-Männer stehen. Momentan besetzen Alexander Gauland und Jörg Meuthen die Posten. Doch Flügel-Unterstützer Gauland – 78 Jahre alt – wird wahrscheinlich nicht mehr antreten. Momentan aussichtsreichster Kandidat ist Tino Chrupalla aus Görlitz. Er ist bereits Vize-Vorsitzender der Bundestagsfraktion und gilt als einer, der sich mit dem Flügel arrangieren kann. Doch reicht dem Flügel das? An Meuthens Stuhl wird seit Monaten gesägt, weil er sich ab und an vorsichtig kritisch zu Höcke und Co. geäußert hatte. Die Drohgebärden des Flügels in seine Richtung scheinen erfolgreich gewesen zu sein: Meuthen hat seine zaghafte Kritik in Richtung des Flügels erst einmal wieder eingestellt.
Trotz dieser glänzenden Ausgangsbedingungen wissen einige, dass man es vielleicht doch noch nicht unbedingt übertreiben sollte. So mahnt Götz Kubitschek vom Institut für Staatspolitik am Tag nach der Wahl zu „Geduld, Geduld und nochmals Geduld. Es wird langsam gebohrt, das wissen wir doch alle.“ Kubitschek war es auch, der das Gespräch mit Alice Weidel suchte. Die Fraktionschefin im Bundestag erscheint nach außen oft als Gegenpol zum Flügel, hält sich mit Kritik aber sehr zurück und gilt als Opportunistin. Kubitschek, der Frontmann der intellektuellen Neuen Rechten, ist mittlerweile ein ausgleichender Faktor zwischen den National-Neoliberalen und Leuten wie Höcke. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann der Flügel die alleinige Vorherrschaft in der AfD übernimmt.
Kommentare 9
Vergesssen wir nicht: Die afd ist eine Partei, die am bestehenden Wirtschaftssystem nichts auszusetzen hat. Damit unterscheidet sie sich nicht von ihren Konkurrenten (bei den Linken, oder der SPD-Basis gibt es vielleicht noch ein paar Ausnahmen). Mit sozialer Rhetorik erreicht die afd viele Menschen und unsere Aufgabe ist es dies als reine Rhetorik zu entlarfen. Das beste Mittel gegen die afd ist eine umfassende Sozialpolitik, aber die ist mit den Herschenden nicht zu haben.
Wird der Begriff bürgerlich noch verstanden?
In der alten Gesellschaft vor der Französischen Revolution und dem Ende des Ersten Reiches der Deutschen, waren das die im Herrschaftsbereich eines Fürsten in dessen Nähe lebenden Städter (Bürger = unterhalb der Burg wohnend), schon dritter Stand, weder adelig noch Klerus, innerhalb des dritten Standes aber oben, weil mit dem ersten Stand eng verbunden.
In Deutschland gab es zudem ein freies Bürgertum innerhalb der Reichsstädte ("Stadtluft macht frei"), dem beispielsweise Goethe entstammte.
Mit dem Schwächerwerden des Adels und der Monarchien übernahm das Bürgertum entweder Teile der Macht von diesem (konstitutionell), oder die ganze, unter Aufrechterhaltung der formalen Königsherrschaft (parlamentarische Monarchie) oder aber die herrschenden Häuser stürzten und es Republiken wurden gegründet.
Das trifft auf ganz Europa zu, mit der Ausnahme Englands, wo der Adel schon früh das Königtum entmachtet hatte und das Bürgertum schließlich in seinen Staat mit hineinwachsen ließ (Oberhaus und Unterhaus).
In diesem Sinne ist nun jede Partei, die weder in palöoreaktionärer Form den Absolutismus (erster Stand) oder eine Klerikerherrschaft anstrebt (zweiten Standes), sondern sich aus dem legitimiert, was der dritte Stand war, automatisch bürgerlich, weil sie auf dem Boden Demokratie "von allen" gewählt werden will.
Das Bürgertum machte das Volk von Untertanen zu Staatsbürger und diese haben Wahlrecht. In Frankreich die Citoyens.
Einen anderen Zungenschlag hatte der Bourgeois, der Wirtschaftsbürger, der "Industriebaron". Der Marxismus hatte diesen mit dem Citoyen vermischt und der bürgerlichen Gesellschaft anschließend den Kampf angesagt, damit natürlich auch der Demokratie, die notwendig eine bürgerliche ist, weil ein allgemeines Wahlrecht in einem Gemeinwesen nur unter Staats-Bürgern funktioniert. (Dieses Gemeinwesen ist übrigens der Nationalstaat.)
Wenn nun von Politikern, die in marxistischen Traditionslinien Politik machen, ein Aufschrei kommt, wenn sich die AfD bürgerlich nennt, so ist das angesichts des eigenen historischen Anrennens gegen die "bürgerliche Gesellschaft", die jedenfalls in der altlinken Dogmatik etwas Negatives war, die es zugunsten einer neuen Welt zu überwinden galt, einigermaßen bizarr, zurückhaltend ausgedrückt und es entspringt der reichlich verquasten Mentalität "verbürgerlichter" (reich gewordener) Barrikadenkämpfer von 1968.
Allerdings kann man, wenn man die Absurdität des genau aus diesem Milieu stammenden Aufschreis über eine Fernsehmoderatorin , die eine schwarz-blaue Koalition "bürgerlich" nennt erkennt, doch trotzdem festhalten:
Es gibt im sozioökonomischen Sinn Großbürgern, Mittelstand und Kleinbürger innerhalb der AfD und die Form der letzteren unter Druck war um 1930 der Faschismus. Auch die NSDAP als proletarische Suppentopfbewegung war dezidiert antibürgerlich und antirepublikanisch, allerdings nicht im wirtschaftlichen Sinn. An Mangelwirtschaft und leeren Regalen ist das dritte Reich nicht gescheitert.
Und so finden sich in der AfD Liberalen und Illiberale, Goldman Sachs und Konservative Revolution, ermpörte Oppositionelle und Leute, die die Partei in ihrem Sinne umbauen wollen. Es gibt solche, die auch in einer FDP mit harten Grenzen sein könnten und solche, die - auf ihre Weise - Sozialisten (Kollektivisten) sind und die letztlich auch keine Republik wollen.
Diesen Wehrsportgruppe- und Zeltlagerrechtsaußen kann man den Begriff "bürgerlich" (so man ihn denn für einen Weihebegriff hält) gewiss versagen, mindestens im habituellen Sinne. Aber dem AfD-Mainstream eben nicht. Ein promovierter Jurist, der vierzig Jahre in der CDU war und dessen Markenzeichen ein Krawattendesign ist, soll kein bürgerlicher Mensch sein, die Leute, die seit 150 Jahren gegen die bürgerliche Gesellschaft anrennen aber schon?
Das ist dann doch ein bisschen Klippschule.
Ein bisschen Januskopf ist die AfD gleichwohl und es hat mit ihrem Erfolg zu tun. Diese Partei schillert: ihre Wähler finden, was sie suchen (selbst wenn es sich ausschließt) und ihre Gegner können jedes beliebige Monster in ihr sehen (selbst wenn die Monster sich in Wahrheit befehden): von der in der Schweiz lebenden turboliberalen Goldman-Sachs-Bankerin (deren Lesbischsein der identitäre (identätspolitische) Progressismus ganz gerne übersieht) über Teile des klassisch-langweilige CDU-Milieu, das der Merkelpolitik über die Klinge kling, Rechtsliberale (Meuthen, patriotischer Professor, der die gesetzliche Rente abschaffen will), Nationalkonservative wie Gauland, KRler und korporatistische Rechtssozialisten (Höcke) bis hin zur Fraktion Zeltlager.
Das so eine Partei aufgrund ihrer Uneindeutigkeit mediales Interesse auf sich zieht, das in der Massen- und Mediendemokratie auch Kreuzchen bewirkt, ist ebensowenig überraschend wie die inhärente Sollbruchstelle, die es zwischen liberal und illiberal bzw. korporatistisch gibt und entlang derer es gehörig kracht.
Man muss sich nicht allzu weit aus dem Fenster lehnen, um es wahrscheinlich und plausibel zu finden, dass die AfD sich in der Nachmerkelzeit, wenn die Union wieder etwas weiter nach rechts rückt, zwar zerlegt, aber nicht zerfällt. Teile des Publikums kehren dann zur Union zurück, eine Höcke- Partei wird aber bestehen bleiben: irgendwo zwischen Schwarzrotgold und Schwarzweißrot, zwischen Robert Michels und Ludwig Erhard, zwischen Ost und West und zwischen Demokratie und angedeutetem Führerprinzip.
Uneindeutig wird auch diese AfD sein, auch wenn der taktische Anteil daran stärker sein wird. Und man wird sich auch bei ihr fragen, ob sie nun bürgerlich ist oder nicht.
Ihre ungenauigkeiten mal beiseite:
wichtig wäre auch, die teilung der bürger in
- "bloße staats-bürger (unter ihnen jene "jüdischen bluts") und
- "reichs-bürger" mit "deutschem und artverwandtem blut"
nachzuvollziehen.
--->wikip.: reichsbürgergesetz (vom 15.september 1935)
denn diese absichts-volle scheidung in mindere und voll-bürger
ist den anti-bürgerlich-bürgerlichen bis heute
eine herzens-angelegenheit/obsession.
dieses, ihr exklusions-verlangen macht diese bürger zu nazis.
"Hauptgegner der deutschen Arbeiterklasse"
Ob die Mehrheit der Arbeiter das auch so sah? Die KPD ist sehr wesentlich auch daran gescheitert, dass sie sich nicht vorstellen konnte (kann es die Linkspartei), dass der kleine Mann Patriotismus empfindet, sich für sein Gemeinwesen interessiert (durchaus auch im Modus des "right or wrong - my country").
Was so etwas angeht waren Nazis deutlich hellsichtiger, übrigens im selben Sinne, in dem die AfD heute hellsichtiger, "schlauer" ist als die Linkspartei, die nicht in der Lage ist, zu durchschauen, dass Wagenknecht ihr genau das sagt.
Und by the way: Der Antifaschismus der deutschen Kommunisten war und ist doch eine ex-post Veranstaltung. Es gab keinen Mussolini und keine Imitatoren, als der Marxismus entstand.
Sie wissen, dass die KPD der Weimarer Zeit ihren Hauptgegner in den abtrünnigen Marxisten der SPD sah ("Sozialfaschisten"), während sie mit der NSDAP im Reichstag durchaus kooperierte (diese Nazis ware ja reaktionär, also gestrig, also harmlos aus ewiger Fortschrittsideologie) und durchaus "negativ koalierte" (= alles niederstimmte) bis hin zum Berliner Verkehrsstreik (Ulbricht und Goebbels...)
Beide Parteien, KPD und NSDAP waren sozialistisch (kollektivistisch), auch wenn sie etwas völlig anderes darunter verstanden. Der Sozialismus der Linken war theoretisch durchdacht, blutleer und weltfremd , der der Rechten das genaue Gegenteil. Es ist übrigens auch kein Zufall, dass es den Nazis gelang, Teile des Rotfrontkämpferbundes in die SA zu übernehmen (mit dem sozialdemokratischen Reichsbanner funktionierte das weniger), durch Symbole wie der Aufwertung des 1. Mai zum Feiertag etc. So mancher SA-Mann Mitte der dreißiger Jahre war ein früherer Kommunist. Auch der Staatsstreich des 20. Juli kam definitiv nicht von links. Man kann den konservativ-mythischen Aristokraten Stauffenberg guten Grundes kilometerweit rechts von Hitlers Suppentopfbewegung verorten (die freilich auch nicht "links" war, es sei denn, das meint sozialistisch, und sozialistisch (ungleich marxistisch) war sie).
Nazideutschland erlebte entsprechend keinen 17. Juni. Es hatte mit der Wirtschaftsform zu tun; die Wette des Marxismus, dass "der Arbeiter" nur darauf wartete, dass man die Betriebe verstaatlicht und die Wirtschafts abmurkst, ist Bullshit.
Die Kommunisten waren für die Nazis keine Gegner, so wenig wie es die Kipping-Linkspartei für die Höcke-AfD ist.
Die AfD sollte Höcke samt Flügel behalten. Es wäre unsinnig, denen die Stühle vor die Türe setzen zu wollen: In NRW erzielte die zerstrittene AfD bei der letzten LTW gerade mal gut 7% - ein Drittel dessen, was im Osten erreicht wurde. Und da soll sie den Osten abservieren?? Wie dumm wäre das denn?
Die AfD könnte Höcke, Kalbitz und alle ihre Freunde rausschmeißen - wie wäre das Ergebnis? Die Leidmedien würden sofort ein Dutzend Weitere präsentieren, die rauszuschmeißen dringend sei. Und schmisse die AfD auch die noch raus - es kämen postwendend die nächsten beiden Dutzend Rausschmissforderungen seitens der Staatsfunker, Springeristen & Cie.
Per Saldo ist es seitens der AfD unsinnig, auf Rausschmissforderungen der Gegner auch nur verbal zu reagieren. Die Mitglieder bleiben drin, wenn sie die Satzung beachten und fertig.
"Per Saldo ist es seitens der AfD unsinnig, auf Rausschmissforderungen der Gegner auch nur verbal zu reagieren."
Das stimmt, ist aber nur deswegen, weil die Gegner der AfD in der sturheilen "Taktik" gefangen, ja arretiert sind, ohne Rücksicht auf sachpolitische Rückkopplungseffekte und das eigene Image den tatsächlich oder auch scheinbar am weitesten rechts stehenden Politiker aus vollen Rohren und exklusiv anzugreifen - und mit der CSU weitermachen würden, wenn die AfD sich selbst vollständig ausgeschlossen und aufgelöst haben würde. Vor der AfD war bekanntlich mal Gauweiler "der Böse", dann sogar Stoiber.
Die unmittelbar links vom aktuellen Dämon stehenden (also Professor Lucke es reichte eine schwarzrotgoldene Fahne für Nazialarm auf bento-Niveau) bleiben aber unbehelligt rechts liegen. Das heißt für die AfD doch, dass sie, um das feststehende Verhalten ihrer Gegner wissend, mit einer Art Triggervorhut das Overton-Fenster immer weiter nach rechts schieben kann.
Das passiert doch gerade. Seitdem Kalbitz' Foto auf dem Zeltlager publik ist - ist Höcke uninteressant, obwohl er intelligenter und konzeptionell stärker ist. Aber eben vergleichsweise weniger skandalgeeignet, weil es von ihm nur Bilder in Hemd und Krawatte gibt.
Genau deswegen führt Gauland auch seine Achselzuckbürgerlichkeit auf. Er rollt die Augen über Kalbitz (und Höcke hat ihm seinen Ziehsohn ja ein Stück weit politisch entwendet), er wird den Gegnern der AfD aber nicht den Gefallen tun, in ihr Spiel einzusteigen.
Höcke wiederum spielt es aktiv mit. Demnächst dürfen sich noch einige Kommunalpolitiker für ihn opfern. An dem Tag, an dem die AfD-Stadtratsfraktion in Buxtehude oder in Hintertupfingen aus Versehen vielleicht eine kaiserliche Reichskriegsflagge in den Besprechungsraum hängt, ist auch Kalbitz langweilig und der etablierte Parlamentarier Höcke in der Rolle des sozial angekommen - ohne sich auch nur einen Millimeter inhaltlich verändert zu haben.
Nach dem "Rentenparteitag" der AfD, der inhaltlich durchaus zum Showdown taugt, ist es dann möglicherweise so, dass nicht die AfD den Flügel behält, sondern dieser, als AfD, den Nicht-Flügel.
(Höcke in der Rolle des sozial angekommenen Mäßigers)
"Die SED hatte sich auch massiv, kleinbürgerlich-ideologisch und dabei antikommunistisch, für nationalen ''Patriotismus'' eingesetzt und ist damit grandios gescheitert. Siehe doch nur das Ergebnis der Volkskammerwahlen vom 18. März 1990"
Junge, Junge... :) Die SED bestand ohne Zweifel aus Kleinbürgern, aber sie hatte doch mit deutschen Patriotismus, also dem Landesinteresse, nichts am Hut, sie war ein von einer fremden Macht abhängiger Außenfaktor, der die Wirtschaft und die Natur ruiniert hatte und die Leute einsperrte, der Crap vom Crap dessen, was nach 1945 vom deutschen Kommunismus übrig war, nachdem erst die Sozis (1919) mit Erschießungskommandos im Hinterhof, dann die Nazis (1933 bis 1945), subtiler und trotzdem brutaler, und dann Stalin (1940-1941) unter den Exilanten im Hotel aufgeräumt hatte.
Man muss den deutschen Kommunisten ja fast lassen, dass ihr Abstieg vom Niveau Liebknechts und Luxemburgs zu Mielke und Honecker, also von einem europaweit vernetzten progressiven Pazifismus zum verwanzten, grauen gemeinen Plattenbaustaat nicht allein selbstverschuldet war.
Aber in freien Wahlen konnten weder die einen noch die anderen bestehen. Was übrigens nichts mit Patriotismus, sondern mit dem Unsinn der Kollektivierung zu tun hat.
Sie wirken ein bisschen wie ein kaiserlicher Offizier im Jahr 1950. Auf ewig treu (im Grunde bewundernswert) aber auch irgendwie aus der Zeit gefallen.
"kapital-faschistische"
Mit einer solch groben Stanze können Sie zwischen Liberalen und Rechten nicht unterscheiden. Es prallen aber liberal und illiberal gerade hart aufeinander in Europa, ohne dass eine der beiden Seiten mit Marxismus irgendetwas am Hut hätte.
Schauen Sie sich die historische KPD und deren Scheuklappen an: die sahen zwischen der Regierung Hitler und den Präsidialkabinetten doch allen Ernstes keinen Unterschied, weil die Produktionsmittel ja immer noch in privaten Händen waren. Dabei war der bürgerliche Rechtsstaat weg und die Wirtschaft wurde zu Zwecken des neuen Staates ausgerichtet...
Entsprechend müssten Sie Lindner von der FDP und den AfD-Flügel um Höcke unterschiedslos als "Kapitalfaschisten" abstempeln...
Ein Liberaler ist aber mit Sicherheit kein Faschist und Faschisten sagen dem LIberalismus dezidiert den Kampf an (am explizitesten bei Möller van den Bruck oder Mohler).
Auch diese ideologisch arretierte Unschärfe im Selbstbetrugsgewand wissenschaftlicher Omniskienz ist eine Schwäche des Marxismus.
Eure Gegner sind deutlich kategorienschärfer und das, ohne sich intellektuell oder gar sittlich überlegen zu fühlen...
"Hätten Sie auch etwas über das Abtauchen der SPD im Faschismus mitzuteilen?"
Naja, zunächst war die SPD zu Beginn der Weimarer Periode die wichtigste Partei in Deutschland. Eigentlich war Weimar ihr Staat. Sonst wäre sie der Revolution von 1918/19 ja nicht in den Rücken gefallen, um einen Sowjetstaat zu verhindern und eine bürgerliche Republik zu schaffen.
Große Klammer auf:
Die Monarchisten und Kaisertreuen, auch weite Teile der Deutschnationalen hatten mit Weimar nichts am Hut, weil ein Republik und keine Monarchie.
Die Zentrumspartei war leidlich staatstragend, aber nur solange der Staat funktionierte und in geringerem Ausmaß als die SPD. Ddas deutsche Reich der 1920er war immer noch jener norddeutsch protestantisch dominierter Zusammenschluß mit der Preußenhauptstadt Berlin, ein Gebilde, das die Preußen nach 1866 zum Entsetzen der katholischen Mittelmeerwelt in einem Bruderkrieg gegen die Süddeutschen geschaffen hatten.
Es überrascht nicht wirklich, dass die Zentrumspartei auf einem Wink aus Rom Ermächtigungsgesetz zustimmte. Die Nationalsozialisten hatten sich, vermittelt durch den Katholiken Papen, ja dem eigentlichen mediterranen und reaktionären Faschismus angenährt (siehe das Konkordat).
Die Liberalen waren - Liberale, sahen die Welt als privaten Marktplatz und sonst nichts. Sie stimmten dem Ermächtigungsgesetz aus Opportunität zu.
Und die Marxisten der Richtung Spartakus, USPD und KPD waren in den Denkhorizonten der reinen Ökonomie doch deren Verneinung und Gegenteil, sahen die Welt als Ort, an dem die Produktion sozialisiert und geplant werden solle.
Der Pazifismus ist geschenkt, war aber unrealistisch. Das Reich musste aufgrund seiner Lage und seines norddeutsch-militärischen Grundcharakters (Preußentum war geil, aber Krebs) entweder siegen oder besiegt werden und 1918 erfolgte eben nur ein faktischer Waffenstillstand.
Klammer zu.
Interessant ist nun, dass die SPD ihren Staat am Ende doch aufgab - und es war wesentlich der ihre. Die anderen unterschieden sich bestenfalls im Achselzucken, wenn nicht in der Schärfe, in dem sie ihn ablehnten oder fallen ließen, als er nicht mehr funktionierte.
Und war die SPD wirklich aus Gründen von Weltgemeinheit allein auf weiter Flur? Klammerte sie sich nicht an etwas Totes?
Die gescheiterte Republik (keine konstruktive Parlamentsmehrheit mehr möglich, Wirtschaftskatastrophe, 7 Millionen Arbeitslose, Reparationsirrsinn, Straßenschlachten) als gescheitert anzuerkennen und sich über die Alternativen Gedanken zu machen, das taten die Rechten. Man kann das als Bösität ansehen, muss es aber nicht. Leider waren sie sich dann zu keinem Zeitpunkt darin einig darin, mit der preußischen Polizei und der Reichswehr die NSDAP (genauer: deren SA) plattzumachen. Als Papen wollte, wollte Schleicher nicht und als Schleicher dann doch wollte, hatte Papen schon mit Hitler angebandelt, um diesen einzubauen und Hindenburg wollte am Ende des Lebens keinen Bürgerkrieg mehr gutgeheißen haben. So wild wäre es wohl gar nicht geworden, vielleicht so wie in Österreich 1934 (indes eine andere Konstellation). Jedenfalls ebneten dieses "Republik am Ende" + "Probleme ungelöst" + "Es geht so nicht weiter" + das faktische "Eher mit den Nazis als gegen sie" Hitlers Weg in die Regierung.
Die SPD hatte damit eigentlich gar nichts zu tun und weil ihre Anführer ja aus Sicht der neuen Regierenden "Novemberverbrecher" waren, sie diese nicht per Konkordat nahegerückt war (Zentrum), wesentliche Teile der Wirtschaft gehörten (Liberale) und sie auch nicht in den staatspolitischen Zielen mit diesen Übereinstimmten (was die Deutschnationalen taten, die kein Schädel vermessen, aber auch die Reparationen weg und das Elsaß zurück wollten), waren die Anführer der SPD auch alsbald im Exil verstreut und alle diese kleinen Vereinigungen und Vereinchen wie die Arbeiterwohl etc.pp. gleichgeschaltet.
Nach 1945 kam mit der Mittelbau der Sozis dann in Westdeutschland aus den Katakomben und übernahm schließlich das Programm der CDU (Godesberg, 1959), in Mitteldeutschland wurde sie mit der KPD zwangsvereinigt und übernahm deren Programm.
Heute ist die SPD eine Partei, die nicht nur ihre Geschichte, sondern sogar ihren Sinn hinter sich hat.
Ihren großen Moment hatte sie 1918/19, wie immer man über diesen denkt (je nach Sicht war sie entweder rechtsradikal und den Rechtsstaat rettend oder aber konterrevolutionär und arbeiterfeindlich unterwegs).