Wissenschaftler und Publizisten haben sich viel Mühe gegeben, die These zu untermauern, es gebe keine Klassen mehr. Die Bundesrepublik war noch keine fünf Jahre alt, die KPD noch nicht verboten, da sprach der Soziologe Helmut Schelsky von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“: Die Unterschiede zwischen Unten und Oben würden sich zunehmend auflösen, so Schelsky. Das Bild der Mittelstandsgesellschaft erwies sich als erstaunlich resistent: Obwohl sich in den vergangenen Jahrzehnten die Schere zwischen Arm und Reich öffnete, fühlte sich ein überwiegender Teil der Mitte zugehörig.
Doch dieses Bild bröckelt. Mittlerweile geht selbst Konservativen der Verweis, Klassen habe es nur zu Zeiten von Karl Marx gegeben, nicht mehr so leicht von den Lippen. Die Krise, die vor zehn Jahren begann, machte viele, vor allem junge Leute in Südeuropa, arbeitslos. Selbst in Deutschland kommen Millionen Menschen nicht mit einem Job über die Runden, sind Patchwork-Arbeiter. Gleichzeitig stiegen die Gehälter der Topmanager in astronomische Höhen.
Auch viele Linke, die lange nichts von Klassen wissen wollten, haben die soziale Frage wiederentdeckt – aus einer Position der Schwäche heraus. Als immer deutlicher wurde, dass es rechten Parteien und Initiativen gelingt, Teile der Arbeiterklasse zu mobilisieren, wurde so manchen Sozialdemokraten wie auch so manchem radikalen Kritiker an der Universität gewahr, dass der Aufstieg der Rechten irgendetwas mit der Krise der Linken zu tun haben könnte.
Kurz nachdem die AfD im März 2016 bei Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt bei Arbeitern und Arbeitslosen stärkste Partei wurde, erschien die deutsche Übersetzung des Buches Rückkehr nach Reims von dem französischen Soziologen Didier Eribon. Das Buch war plötzlich überall: auf den Tischen in den Seminarräumen, neben dem Glas Latte Macchiato im Berliner Szenecafé und in den Reiserucksäcken deutscher Individualtouristen. Eribon beschrieb eindrucksvoll, wie sich die Linken von den Arbeiterinnen und Arbeitern abgewandt hatten. Während das Buch fleißig gelesen und diskutiert wurde, stimmte in Großbritannien eine Mehrheit für den Brexit. Ein paar Monate später wurde Donald Trump zum Präsidenten der USA gewählt.
Bleib gesund, Crowdworker
Aktuell droht die Linke, zerrieben zu werden: Es gibt keine linke Erzählung, kaum Verbindungen zum Alltagsleben breiter Teile der Bevölkerung, nur sehr wenig kollektive Erfahrung gemeinsamer erfolgreicher Kämpfe, geschweige denn eine Zukunftsvision, von einem realistischen Machtzugang einmal ganz abgesehen.
Unter dem Begriff „Neue Klassenpolitik“ diskutieren Linke seitdem, wie feministische, antirassistische und internationalistische Perspektiven mit einer Klassenpolitik auf Höhe der Zeit verbunden werden können. Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass die Trennung zwischen Klasse auf der einen Seite und Antirassismus und Feminismus auf der anderen Seite keinen Sinn ergibt. Die Zusammensetzung der Klassen ist seit jeher durch Geschlechterverhältnisse, rassistische Verhältnisse und die globale Ungleichheit strukturiert.
Klassenpolitik ist im Grunde stets „neu“, denn Klassen sind nichts Statisches. Sie unterscheiden sich je nach Gesellschaftsformation, aber auch im Kapitalismus selbst – die kapitalistische Klassengesellschaft ist im Kern noch immer eine, auch wenn sie vor 100 Jahren anders aussah.
Das Grundprinzip bleibt freilich gleich: Die Bourgeoisie, heute bizarrerweise Arbeitgeber genannt, besitzt die Produktionsmittel und schöpft Profite aus der Arbeit der von ihnen abhängig Beschäftigten – weshalb sie eigentlich die Arbeitnehmerseite ist. Ihr gegenüber steht die Klasse der Arbeiterinnen und Arbeiter im weiten Sinne. Sie haben keine Produktionsmittel und müssen sich beim Bourgeois verdingen. Die durch dieses Ausbeutungsverhältnis definierte Klasse der Lohnabhängigen ist sehr divers in ihrer Gestalt: hochqualifizierte Angestellte, ungelernte Hilfsarbeiter_innen, Reinigungskräfte, Fahrradkuriere – was die gemeinsamen Interessen überdeckt und eine Organisierung erschwert.
In der Debatte um „Neue Klassenpolitik“ geht es darum, die Orte des Klassenkampfs zu finden. Dabei geht es nicht nur um Orte, an denen gekämpft wird, sondern auch um jene Orte, an denen die Klasse zusammenkommt, an denen sie sich mit neuen Formen der Produktion auseinandersetzen muss, wie die Arbeit technisch und von oben organisiert wird. Gleichzeitig nimmt die „Neue Klassenpolitik“ die Perspektive von unten ein, wie die Arbeiterklasse für ihre Interessen kämpft, an welchen Punkten sich Protest entwickelt – und die Vereinzelung überwunden werden kann.
Kämpfe um bessere Arbeitsbedingungen gibt es nicht nur an den bekannten Orten der Klassenauseinandersetzungen: den Fabriken, sondern auch da, wo sich neue Formen der Beschäftigung entwickeln.
Die Digitalisierung der Arbeitswelt hat nicht nur Roboter hervorgebracht. Es hat sich eine neue Gruppe innerhalb der Arbeiterklasse entwickelt: die Crowdworker. Crowdwork umfasst alle Dienstleistungen, die über Plattformen im Internet vermittelt werden. Das Prinzip: Crowdworker loggen sich über eine App ein und bearbeiten einzelne Aufträge. Eine Plattform dient als eine Zwischenstelle zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer. Nach diesem Prinzip arbeiten weltweit im Netz Tausende Plattformen. Umsatz machen sie über die Vermittlung. Und das nicht zu knapp: Der Taxidienst Uber bekommt bis zu 20 Prozent des Honorars der jeweiligen Fahrt. Damit hat Uber im Jahr 2016 über 6,5 Milliarden Dollar umgesetzt.
Arbeitsverträge gibt es für Crowdworker kaum noch. Crowdworker werden zu „Selbstständigen“, womit sie weniger Rechte haben, etwa auf Urlaub. Von Lohnfortzahlung im Krankheitsfall träumen viele nur. Hinzu kommt: Bei den meisten Jobs in der Plattformökonomie bezahlen die Firmen pro Gig. Der Begriff Gig bezeichnet in der Musikbranche einen einzelnen Auftritt. In der Welt der Plattformen ist ein Gig ein einzelner, meist kleinteiliger Auftrag. Dass Menschen nach kleineren Jobs bezahlt werden, ist kein neues Phänomen; neu aber ist, dass nun Plattformen damit Geld verdienen.
Die Bezahlung nach Gig ist kein Novum im Kapitalismus. Marx kannte einen anderen Begriff: Stücklohn. Er nannte das Stücklohn-Prinzip einst die dem Kapitalismus entsprechendste Form der Entlohnung. In der Tat: Das Stücklohn-Prinzip ist vor allem für die Konzerne von Vorteil, denn dadurch können sie möglichst viel aus der Arbeitskraft herauspressen. Die britische Arbeitsforscherin Ursula Huws spricht mit Blick auf die weitgehend nicht regulierte Plattformökonomie von einer Wildwest-Phase des Kapitalismus, in der wir uns gegenwärtig befänden. Die Parallelen zur Zeit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert sind unübersehbar: hohe Ausbeutung auf der einen Seite, kaum bis gar kein Schutz der Arbeitskraft auf der anderen Seite.
Extreme Formen von Ausbeutung haben sich immer nur dann geändert, wenn es zu Klassenkämpfen kam. Die Arbeiterbewegung, die in der Phase der Industrialisierung entstand, erstritt mehr Sicherheit und höhere Löhne: der Acht-Stunden-Tag, die Einführung der Sozialversicherungen, Tarifverträge. Doch wer könnte heute diese Kämpfe führen? Durch die Zerstückelung der Arbeit und die hyperflexibilisierte und die stark individualisierte Arbeit ist kollektives Handeln kaum möglich.
Hoffnung auf zwei Rädern
Das gilt aber nicht unbedingt für alle Gruppen. Die Hoffnungsträger eines Klassenhandelns in der Plattformökonomie kommen auf zwei Rändern. Man sieht sie vor allem in größeren Städten: Fahrradkuriere, sogenannte Rider, mit großen und bunten Warmhalte-Boxen auf dem Rücken. Sie sind unterwegs, um den Kunden ihr online bestelltes Essen zu liefern. Erste Ansätze von Kämpfen sind erkennbar: Los ging es in London, als Kuriere des Online-Essenslieferdienstes Deliveroo gegen die Einführung eines Stücklohns streikten. Auch in Italien, Spanien und in den Niederlanden gab es ähnliche Streiks. In Deutschland ging es bisher vor allem in Köln heiß her. Renitente Rider gründeten bei Deliveroo einen Betriebsrat. Laut der Kuriere hat Deliveroo darauf reagiert, indem es die Verträge der Festangestellten nicht verlängert hat.
Die Bedingungen für kollektives Handeln sind bei Fahrradkurieren besser als bei Clickworkern, die sich einsam an ihrem heimischen Laptop mühsam von Kleinstjob zu Kleinstjob hangeln. Die Rider erkennen sich gegenseitig an ihren Essensboxen auf dem Rücken und den Farben ihrer Shirts. Viele teilen einen Lifestyle – eine Rider-Kultur. Sie interessieren sich für ausgefallene Fahrradteile, tragen ähnliche Klamotten. Was für den Industriearbeiter in der Fabrik die Kantine war, das sind bei den Riders die Orte in der Stadt, wo sie auf neue Aufträge warten. Trafen sich früher die Arbeiter in der Eckkneipe, schrauben die Rider in der Werkstatt an ihren Rädern herum. Was einst das Treffen der kämpfenden Teile der Klasse war, ist heute die Facebook- oder Whatsapp-Gruppe.
Und es gibt Ansätze, wie sich der Kampf von unten gegen die Kontrolle von oben wenden kann. Riders nutzten ihre App, um sich mit anderen Kurieren auszutauschen. Gleichzeitig ist die App mit ihrem erbarmungslosen Algorithmus für die Rider vor allem eines: ein Feind. Tatsächlich ist sie aber auch ein nützlicher, weil gemeinsamer Feind. So manchem Untergebenen mag es schwer fallen, den Kampf gegen einen permanent duzenden Chef zu führen. Gegen eine kalte App fällt das leichter.
Diese Kämpfe sind Anfänge. Die Streiks im Care-Bereich, bei Amazon, bei Ryanair – sie alle zeigen nicht nur, dass sich etwas bewegt, sondern dass es sie gibt, die Klassen. Vereinzelung, Atomisierung, Prekarisierung – das sind Leitbegriffe unserer Zeit. Sie müssen es nicht bleiben.
Kommentare 7
Nein, das nennt sich Sozialismus, und hat mit Demokratie nichts mehr zu tun.
Aber es macht bestimmt Spaß, den ganzen Laden, analog zur Sowjetunion und dren Vasallenstaaten, noch einmal gegen die Wand zu fahren.
Warum sollte zwischen beiden Gleichberechtigung herschen?
Was herschen sollte, währe eine Soziale Partnerschaft. Dies aber eher auf Basis der sozialen Marktwirtschaft, und nicht durch Enteignung oder Überführung in Volks-Eigentum. Dennein solches Volk existiert nicht.
Ich plädiere eher für Mindestlohn und hohe Besteuerung von von leistungslosem Einkommen. Reichtum verpflichtet darf nicht zu einer hohlen Phrase verkommen.
Aber viel schlimmer wäre die Herrschaft mittels eines ideologischen Führungsanspruchs, egal ob links oder rechts, und egal ob durch die Linke oder die AFD. Poltische Gruppierungen sollten immer nur der Korektur, Weiterentwicklung und Verbesserung des bestehenden Systems sein.
>>Reichtum verpflichtet darf nicht zu einer hohlen Phrase verkommen.<<
Dass die Phrase so hohl ist liegt daran, dass der Reichtum Macht verleiht: Die konkrete Macht, Regierungsentscheidungen zu kaufen und im ideologischen Überbau die Definitionsmacht.
Und natürlich die Macht, das Herrschaftssystem ständig weiter zu optimieren, da haben Sie recht..
Enteignung oder im schönsprech "Überführung in Volkseigentum ist aber auch nichts anderes als Gewaltanwendung.
Und wer Gewalt gegen Frauen, Kinder oder Schwache ablehnt, sollte auch die viel schlimmere Gewalt aus ideologischen oder religiösen Gründen ablehnen.
Hier müssen andere Lösungen her
Es könnte sich allerdings als notwendig erweisen, der Gewalt aus Gründen der Reichtumsvermehrung eine Gewalt aus Gründen des Bedarfes an günstigeren Lebensbedingungen entgegenzustellen. Was dann?
"Die Bourgeoisie, heute bizarrerweise Arbeitgeber genannt,"
Danke für diese in vielen Texten überfällige Klarstellung dieser Verdrehung, der wir auf keinem Behördenformular entkommen können.
Das sehe ich auch so.
Nur graut es mir vor dieser Vorstellung, weil das Ergebnis keine Seite zufriedenstellen dürfte.
So etwas (Revolutionen oder ziviler Ungehorsam) was sich auf ein Land beschränkt hat außer einem "Aha"-Effekt aber wahrscheinlich keine weitere Auswirkung. Solange ein solcher Aufstand der Abgehängten/Unzufriedenen nicht mindestens auch die USA, Kanada die Schweiz und die BRICS-Staaten erschüttert, sehe ich keine Chance für eine wirkliche Änderung. Die Mobilität des ausbeuterischen oder unterdrückenden Kapitals könnte man nur stoppen, wenn man die Ausweich- oder Rückzugsländer ausschalten würde. Und wer Realist ist, der weiß, das dies eine Utopie bleiben wird. Denn die USA oder China würde es nicht im geringsten kümmern, wenn die Menschen in Deutschland tabula-rasa machen würden. Die würden sich ja sogar noch freuen, das Siemens, Mercedes oder SAP dann ihren Firmensitz dorthin verlagern würden.
@ Reinhold Schramm
Clara Zetkin ist genauso tot wie der Kommunismus.
Wo sind denn die heutigen Rufer und Vordenker?