Aufrüstung und Krieg: Ist jetzt jeder, der sich nicht einreiht, ein „Friedensschwurbler“?

Kolumne Wie wir in einem Jahr Krieg sprachlich aufgerüstet und „alte“ Gewissheiten überdacht haben, um die Stellung an der Heimatfront zu halten, irritiert Freitag-Autor Sebastian Friedrich. Das „Lexikon der Leistungsgesellschaft“
Ausgabe 09/2023
„Frieden schaffen ohne Waffen“: Auch in diesen Zeiten ein legitimer Wunsch?
„Frieden schaffen ohne Waffen“: Auch in diesen Zeiten ein legitimer Wunsch?

Foto: IMAGO / Funke Foto Services

Der Krieg bestimmt seit einem Jahr fast alles, beeinflusst unser Denken, geht durch uns durch. Wir stehen laut dem Politikwissenschaftler Ingar Solty vor einer neuen Blockkonfrontation, die zwangsläufig Demokratie, Sozialstaatlichkeit und Liberalität unter Druck setzt – und erleben eine schrittweise Ausweitung des Militärischen auf alle Bereiche, eine Militarisierung als immer stärker werdendes ideologisches Bindemittel unserer Gesellschaft.

Wir wissen inzwischen alle, dass Marder, Geparden, Leoparden und Pumas nicht nur Tiere sind, kennen uns besser mit offensiven und defensiven Waffensystemen aus als jemals, hören links wie rechts Argumenten für die Wiedereinführung der Wehrpflicht zu und lassen bereitwillig militärische Sprache in unseren Alltag hinein. Zwar wussten wir auch vor dem Krieg bereits, dass es zu Hause mal so aussehen kann, „als hätte dort eine Bombe eingeschlagen“, hörten Kinder singen „Frühling will nun einmarschieren“, hielten unsere Fahnen hoch oder streckten die Waffen. Doch seit dem russischen Angriff rüsten wir sprachlich auf, feiern „Tapfer-“ und „Unbeugsamkeit“ von „Helden“, die für uns in die Bresche springen.

Zugleich nutzen wir Verniedlichungen, kritisieren zwar zu Recht, wenn in Russland der Schrecken des entfachten Angriffskrieges als „militärische Spezialoperation“ verharmlost wird, sprechen aber selbst von „Mini-Nukes“ oder „kleinen“ Atomwaffen und denken bei „close the sky“ eher an Rihanna oder James Bond als an die potenzielle Entfachung eines großen Krieges.

Wir verlieren unsere Abneigung gegenüber Personalisierungen, Dämonisierungen, Stereotypisierungen, reaktivieren die Kategorien „gut“ und „böse“ aus unserer Kindheit. Und wir ändern unsere grundsätzliche Einstellung zum Krieg, überdenken „alte“ Gewissheiten – nicht nur in den Wochen direkt nach Kriegsbeginn, sondern auch ein Jahr später, erst vor ein paar Wochen etwa, als sich binnen weniger Tage die Mehrheitsverhältnisse bei der Frage, ob Deutschland Leopard-2-Panzer liefern sollte, änderten – allen voran bei Anhängern von Grünen und SPD, was uns längst nicht mehr überrascht.

Und wir halten die Stellung an der Heimatfront, werfen anderen Verrat, Feigheit oder Komplizenschaft mit dem Aggressor vor. Wir erfinden Wörter wie „Unterwerfungspazifismus“, „Lumpenpazifist“, „Friedensschwurbler“, erinnern uns an Begriffe wie „Defätismus“ oder den der „fünften Kolonne“, verlieren unsere Abneigung gegenüber der Bombe, lernen die NATO zu lieben, finden es naiv oder zynisch, wenn sich jemand nicht gänzlich einreihen möchte.

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