Einer von Fünf ist tätowiert

Kolumne Unter den 20- bis 29-Jährigen hat sogar jede Zweite ein Tattoo. Kein Wunder: In dieser schnellen Welt der Vereinzelung sind Tätowierungen Selbstbekenntnisse der eigenen Existenz. Das „Lexikon der Leistungsgesellschaft“
Ausgabe 40/2022
Hype um Tattoos: Liebe geht unter die Haut
Hype um Tattoos: Liebe geht unter die Haut

Foto: Imago/Mika Volkmann

Lange galten Tätowierungen als Symbole der an den Rand der Gesellschaft Gedrängten: Seefahrer, Gefangene, Sexarbeiterinnen. Das war nicht immer so: Im 19. Jahrhundert erfreuten sich Tattoos unter Adligen besonderer Beliebtheit; so waren etwa Zar Nikolaus II., Kaiserin Sisi und König Edward VII. tätowiert. Mindestens 5.000 Jahre reicht die Tradition der Farbeinsprengungen in die Haut zurück – selbst auf der in den Alpen gefundenen Gletschermumie Ötzi wurden mehr als 60 Tätowierungen entdeckt.

Heute würde Ötzi damit kaum auffallen. Bereits vor vier Jahren hat ein Marktforschungsinstitut gemeldet, dass unter den 20- bis 29-Jährigen fast jeder Zweite mindestens ein Tattoo habe. Unter allen Altersgruppen sei jeder Fünfte tätowiert, womit sich der Anteil der Tätowierten in der Gesellschaft zwischen 2012 und 2019 verdoppelt hat.

Auf der Internet-Plattform Instagram finden sich unter dem Hashtag „Tattoo“ mehr als 177 Millionen Bilder. Beliebt sind vor allem einmalige, besondere Motive. In der vereinzelten Gesellschaft braucht jedes Individuum sein/ihr einzelnes Tattoo. Noch dazu, wo doch das meiste nach einem Wisch und einem Klick in Vergessenheit zu geraten droht und wo sich das Leben vieler anfühlt, als würde es mit vierfacher Geschwindigkeit abgespielt werden.

Tätowierungen als Selbstbekenntnisse der eigenen Existenz: der Name der Kinder, das Datum der Hochzeit, Symbole besonders schöner oder schrecklicher Ereignisse – allesamt Gravuren des Besonderen, des erhofft Unumkehrbaren und Unveränderbaren; Tätowierungen als Versuche, das früher oder später Entrinnbare festzuhalten, wo immer weniger wirklich zu greifen ist, wo es kaum noch haptische Fotoalben gibt.

Selbst der Prozess des Tätowierens, die Stunden auf der Liege, der erfahrene Schmerz und die Gespräche mit der Tätowiererin erscheinen wie Kuren der Entschleunigung. Das Tattoo ist zugleich sichtbarer Beweis, dass man bereit ist, über Grenzen, über Schmerzgrenzen zu gehen. Das kommt gut an: im Freundeskreis, bei der Partnerwahl, beim Vorstellungsgespräch.

Tätowierungen sind so omnipräsent, dass selbst die Verkehrung des vermeintlich Besonderen und Tiefsinnigen durch ein Tattoo ironisiert werden kann. Statt Engeln, Zitaten und Traumfängern dreht sich beim seit ein paar Jahren beliebten „Ignorant Style“ alles um Motive wie Spielzeugautos, Bananen, das Haus vom Nikolaus. Die Bedeutung der häufig krakeligen Tattoos: Bedeutungslosigkeit, Betonung der Trivialität und Sinnlosigkeit – oder auch ein Appell, nicht alles so ernst zu nehmen.

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