Sigmar Gabriel wird der SPD noch fehlen

Neoliberalismus Lexikon der Leistungsgesellschaft: Der ehemalige Parteichef war die letzte Verkörperung eines alten sozialdemokratischen Versprechens
Ausgabe 05/2020
Ein Arbeiterkind, wie es im Buche steht
Ein Arbeiterkind, wie es im Buche steht

Foto: Imago Images/Photothek

Eigentlich hätte Sigmar Gabriel gerne weiter Politik gemacht – doch als es um die Besetzung der aktuellen Staffel der Großen Koalition ging, wurde er gestrichen. Also zückte Gabriel sein Adressbuch und fand schnell neue Rollen: Vorsitzender der Atlantik-Brücke, Mitglied der Trilateralen Kommission, Kurator der International Crisis Group, Politikberater für die Eurasia Group, Beirat des Wirtschaftsdienstleisters Deloitte. Wer sich einen Überblick über das unübersichtliche Geflecht des internationalen Politik-Wirtschafts-Komplexes verschaffen möchte, braucht nur Gabriels Spuren zu verfolgen.

Nun wird der Sozialdemokrat auch noch Aufsichtsrat bei der Deutschen Bank. Nach jahrzehntelanger Arbeit an der Spitze einer neoliberalisierten SPD hat sich Gabriel für hohe Posten in der Wirtschaft mehr als qualifiziert und ist nun endlich angekommen – „da, wo es brodelt; da, wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt“.

Der SPD wird er noch fehlen, weniger wegen seiner Inhalte, noch weniger wegen seines parteiinternen Umgangs. Fehlen wird er der SPD, weil er die vielleicht letzte Personifizierung eines alten sozialdemokratischen Versprechens ist. Seine Eltern lebten getrennt, der Vater Nazi, die Mutter Krankenschwester. Gabriel arbeitete sich hoch – vom potenziellen Sonderschüler über Lehramtsstudium und Vize-Kanzlerschaft in die High Society des internationalen Establishments. Gabriel steht für sozialen Aufstieg, für den Traum des Aufstiegskapitalismus, der die SPD überhaupt erst zur Volkspartei werden ließ, ein „sozial abgefederter“ Kapitalismus, bei dem Leistung noch etwas zählte – angeblich zumindest.

Die Basis des Traums, der mit der Realität nicht viel gemein hatte, war die institutionelle Einhegung des Klassenkampfs: Das Terrain der Arbeiterbewegung wurde eng abgesteckt, dafür warf die Bourgeoisie dem Proletariat ein paar Häppchen in Form von Sommerurlaub, Farbfernseher und eben die Möglichkeit des Bildungsaufstiegs hin.

Als Gegenleistung für den Klassenkompromiss verlor die Arbeiterklasse den Glauben daran, überhaupt eine Klasse zu sein – die vielleicht größte Leistung des Klassenkampfmediators SPD. In einem Unternehmen hat ein Konfliktmanager übrigens vor allem die Funktion, die Kosten des Konflikts zu reduzieren. Egal ob Wehner, Brandt oder Schmidt – die Nachkriegs-SPD machte ihren Job perfekt. Doch einer toppte sie alle: Gerhard Schröder – und das, obwohl oder gerade weil auch er von ganz unten kam.

Doch das Kapital braucht keinen Gabriel mehr, weil es auch keine SPD mehr braucht: Die Zeiten des Klassenkompromisses sind nämlich vorbei. Die soziale Mobilität sinkt gerade bei Männern aus den unteren Klassen – heute hätten es Gerhard Schröder und Sigmar Gabriel wohl schwerer, sich nach oben zu arbeiten. Die Leistungsideologie, der vielleicht wichtigste Kitt eines auf Hegemonie setzenden Kapitalismus, erodiert zunehmend: Gesamtgesellschaftlich war die Geschichte vom Tellerwäscher zum Millionär schon immer ein Märchen. Doch im Gegensatz zu vor ein paar Jahrzehnten wissen heute immer mehr Menschen, dass Leistung eben nicht entsprechenden Erfolg bedeutet.

Anderswo setzen reformorientierte Linke auf einen neuen Klassenkompromiss: Green New Deal, so heißt das Zauberwort. Vielleicht erweckt ein solches Programm tatsächlich die Sozialdemokratie zu neuem Leben. Schade allerdings, dass ein Deal zwischen zwei Klassen nicht viel mit dem Ende der Klassengesellschaft zu tun hat. Möglich ist außerdem, dass das Kapital gerade gar keine Veranlassung sieht, sich auf einen solchen Deal einzulassen.

Aber vielleicht weiß ja Sigmar Gabriel in seiner neuen Position schon bald mehr.

Sebastian Friedrich ist Journalist und führt in dieser Kolumne sein 2016 als Buch erschienenes Lexikon der Leistungsgesellschaft fort, welches veranschaulicht, wie der Neoliberalismus unseren Alltag prägt

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