Wer Kampagnen zur Durchsetzung der Menschenrechte organisiert, muss sich mit den Mächtigen anlegen. Thomas Gebauer befindet sich seit Jahrzehnten in diesem Kampf. Er ist für medico international tätig – eine der wichtigsten und umstrittensten NGOs. Im Interview mit dem Freitag erklärt Gebauer, wie radikal Hilfe sein muss, damit große Veränderungen möglich sind.
der Freitag: Herr Gebauer, blicken wir auf die Welt, wie sie ist, sehen wir überall Krieg und Armut. Um die Not zu lindern, gibt es immer neuere Formen der Hilfe. Besonders schillernd ist der sogenannte „Effektive Altruismus“, bei dem es darum geht, Initiativen zu unterstützen, die besonders effektiv Menschen helfen. Wird dadurch die Welt eine bessere?
Thomas Gebauer: Wohl kaum! Und schon gar nicht, wenn das Ziel die Verwirklichung universeller Menschenrechte sein soll. Im „Effektiven Altruismus“, einer skurrilen Mischung aus Philosophie und Finanzökonomie, wird die Entpolitisierung zum Dogma erhoben. Die Vordenker gehen davon aus, dass Not nur durch Hilfe abgefedert, nicht aber ihre strukturellen Ursachen beseitigt werden können. Die werden bei allen Überlegungen einfach ausgeblendet.
Inwiefern?
Deutlich wird das am Beispiel des „Charity Evaluator“, der von zwei New Yorker Hedgefonds-Analysten entwickelt worden ist. Mit einschlägigen Kosten-Nutzen-Analysen berechnen sie, wie am effektivsten geholfen werden kann. So setzen sie die eingesetzten Mittel in Beziehung zu dem verlängerten Lebenszeitraum eines Menschen und kommen zu dem Ergebnis, dass die effektivste Hilfsorganisation die „Against Malaria Foundation“ ist, die für die Rettung eines Menschenlebens etwa 2.300 US-Dollar aufwendet. Doch was macht man mit Menschen, deren Rettung vielleicht mehr Geld erfordert? Was macht man mit allen Formen von Prävention, um Menschen dabei zu helfen, gar nicht erst in bedrohliche Situationen zu kommen? Das alles lässt sich mit solchen Berechnungen und dieser Form der Wirkungskontrolle nicht erfassen.
Ab wann gilt etwas als effektiv?
Ich habe Vertreter des „Effektiven Altruismus“ mal gefragt, ob sie bereit wären, uns bei der Bekämpfung von Anti-Personen-Minen zu unterstützen. Sie haben es schlichtweg abgelehnt.
Mit welcher Begründung?
Weil eine solche Kampagne ihr Ziel ja auch nicht erreichen könnte, also unwirksam bleibt. Weil man womöglich keine raschen und messbaren Erfolge nachweisen kann. Wir haben schließlich Jahre gebraucht, um das Verbot von Anti-Personen-Minen durchzusetzen. Die Alternative wäre gewesen, es dabei zu belassen, den Opfern Prothesen zu geben. Mit dieser Art des Helfens, die wir auch geleistet haben, verschwindet die Möglichkeit, tatsächlich verändernd in die Strukturen einzugreifen.
Das Konzept scheint aber zu funktionieren. Viele machen mit beim „Effektiven Altruismus“.
Viele Menschen haben das Gefühl, dass sie so Gutes tun. Man überlegt, wie man sein Einkommen ausgibt, ohne zu fragen, wie es zustande kommt. Ganz abstrus wird es, wenn es darum geht, so viel Geld wie möglich zu verdienen. Eine Spielart des „Effektiven Altruismus“ ist das earning to give. Demnach soll man möglichst viel Geld verdienen, um möglichst viel Gutes tun zu können. Die Helden des modernen Helfens sind dann Börsenspekulanten.
Aber was spricht dagegen, wenn Menschen viel Geld für Moskitonetze springen lassen, damit weniger Leute sterben?
Es ist immer eine Frage dessen, was man erreichen möchte. Wenn es darum geht, Not und Unmündigkeit nachhaltig zu überwinden, dann hilft pure Wohltätigkeit nicht weiter. Wenn wir am Ziel der Schaffung sozialer Gerechtigkeit festhalten wollen, bedarf es auch der politischen Intervention. Wer dieses Ziel aufgibt und das Unrecht bestenfalls ein bisschen abfedern möchte, für den ist der „Effektive Altruismus“ vielleicht vernünftig.
Neben dem „Effektiven Altruismus“ sind Crowdfunding-Kampagnen wie GoFundMe aus den USA beliebt. Menschen stellen Aufrufe ins Internet und hoffen, damit genug Geld zu erhalten, um Arztrechnungen, Schulgeld oder Kosten für die Beerdigung eines Verwandten zahlen zu können. Warum ist die private Mildtätigkeit gerade in den USA so verbreitet?
Spendenplattformen wie GoFundMe haben in den USA deshalb eine so große Bedeutung, weil es dort keine systematische und verlässliche soziale Daseinsvorsorge gibt. Wo Menschen keinen Zugang etwa zur Krankenversicherung oder zu öffentlich finanzierten Bildungseinrichtungen haben, bleibt ihnen keine andere Wahl. Inzwischen aber nehmen solche Spendenplattformen auch in Deutschland zu.
Warum?
Sie versprechen Nähe und unmittelbare Solidarität. Dabei wird aber übersehen, dass es Menschen gibt, die gar nicht imstande sind, einen Aufruf zu formulieren, oder die an einer Not leiden, die sie nicht öffentlich zur Schau stellen wollen. Die Anonymität von sozialen Sicherungssystemen, so wie wir sie kennen, ist etwas sehr Wertvolles. Sie sichert ein Anrecht auf Unterstützung, ohne sich entblößen zu müssen. Das schützt vor Diskriminierung und garantiert auch individuelle Freiheiten. Solche Grundsätze gehen verloren, wenn Not und Hilfe auf dem Marktplatz des Internets verhandelt werden.
Auch wenn soziales Crowdfunding als etwas Neues erscheint, ist es also eher ein Rückfall hinter institutionalisierte Solidarität?
Es ist sogar ein Rückfall hinter die Zeit der Französischen Revolution, hinter die Idee der Menschenrechte. Der Sozialreformer Johann Heinrich Pestalozzi, ein Zeitgenosse der Französischen Revolution, soll mal den wunderbaren Satz gesagt haben: „Wohltätigkeit ist das Ersaufen des Rechts im Mistloch der Gnade.“ Wir sind auf dem besten Weg, genau diese Form des Ersaufens von grundlegenden Rechten wieder hoffähig zu machen. Recht ist immer etwas Abstraktes. Rechte haben auch die, die wir nicht kennen und sehen. Wir opfern diese Form des Rechtsanspruchs, wenn wir solidarisches Handeln aus seiner Absicherung durch gesellschaftliche Institutionen herauslösen.
Strukturelle Ursachen sind aber schwerer zu beseitigen. Ist da der Wunsch nach einer konkreten Hilfe nicht nachvollziehbar?
Natürlich ist es wichtig, sich zu engagieren und für die unmittelbare Beseitigung einzelner Missstände zu sorgen. Dabei aber muss immer klar sein, dass für nachhaltige Lösungen mehr notwendig ist. Ich will das am Beispiel eines Projektes aus Südafrika erläutern. In der Provinz Limpopo waren die Toiletten einer Grundschule in einem so schlechten Zustand, dass Kinder darin umgekommen sind. Das mussten und wollten die Eltern zusammen mit den Lehrern ändern. Section 27, eine Partnerorganisation von medico, hat sich eingeschaltet. Der Name bezieht sich auf Artikel 27 der südafrikanischen Verfassung, in dem das Recht auf Gesundheit festgeschrieben ist. Section 27 hat nicht das gemacht, was womöglich viele Hilfsorganisationen getan hätten, nämlich Geld bereitzustellen, damit die Leute in Eigenverantwortung die Toiletten reparieren können. Stattdessen haben sie die Eltern und Lehrer darin unterstützt, sich als politische Akteure zu Wort zu melden, um auf die Schulverwaltungen Druck auszuüben, damit sie endlich ihren Pflichten nachkommen und für die Instandsetzung der öffentlichen Gebäude sorgen.
Hat das funktioniert?
Nicht sofort. Weil die Kampagne die Untätigkeit der Provinzregierung publik gemacht und dabei auch die Korruption thematisiert hat, sind einige der Aktivisten sogar mit dem Tode bedroht worden. Aber am Ende haben sich die Leute durchgesetzt. Und es wurden nicht nur die Toiletten in der einen Schule, sondern in allen Schulen der Provinz instand gesetzt.
Zur Person

Foto: Imago
Thomas Gebauer, 64, ist Soziologe, Psychologe und Menschenrechtsaktivist. Er arbeitet seit gut 40 Jahren im Bereich der internationalen Hilfe, war viele Jahre Geschäftsführer der Hilfsorganisation medico international. Heute ist er Sprecher der Medico-Stiftung. Er hat Anfang der 1990er Jahre die „Internationale Kampagne zum Verbot von Landminen“ initiiert, die 1997 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde
Was unterscheidet Section 27 von einer NGO, die den Betroffenen direkt Geld zur Instandsetzung der Toiletten gegeben hätte?
Das ist ein anderer Ansatz. Es ist eine Hilfe, die den Leuten vor Ort bei ihren Auseinandersetzungen mit den gesellschaftlich Mächtigen, in diesem Fall der Verwaltungsmacht, zur Seite steht und auf eine gesellschaftliche Verantwortung pocht. Für intakte Schulgebäude und Bildung zu sorgen, liegt nicht in privater Verantwortung, sondern in öffentlicher. Es wäre ein Fehler, nicht immer auf dieser öffentlichen Verantwortung zu bestehen. Nur so lassen sich die Menschenrechte verwirklichen.
Sie sprechen in diesem Zusammenhang von der Ambivalenz der Hilfe. Was meinen Sie damit?
Hilfe ist immer etwas Zweischneidiges. Zweifellos ist es notwendig, Menschen, die Hunger leiden, mit Nahrungsmittelspenden beizustehen. Gleichzeitig aber trägt eine solche Hilfe auch dazu bei, bestehende Ungleichheit zu stabilisieren. Hilfe, die soziales Unrecht nur abfedert, schafft noch keine Veränderung der strukturellen Bedingungen von Not und Unfreiheit.
Sie sind aktiv bei der Hilfsorganisation medico. Tragen Sie damit auch zur Stabilisierung der Verhältnisse bei?
Wir haben aus solchen Grundüberlegungen heraus einen kritischen Begriff von Hilfe entwickelt, der Hilfe zugleich verteidigt und zu überwinden versucht. In Zeiten gesellschaftlicher Entsolidarisierung ist es notwendig, auf unmittelbare Hilfen, etwa für Menschen, die zu uns geflohen sind, zu bestehen. Aber es muss eben auch darum gehen, die Ursachen von Flucht und aufgezwungener Migration aus der Welt zu schaffen. Letztlich geht es darum, wohltätige Hilfe durch verlässliche Formen von institutionalisierter Solidarität überflüssig zu machen.
Was unterscheidet Hilfe von Solidarität?
Hilfe ist eine spezielle Form von Solidarität, man unterstützt sich gegenseitig in Situationen von Bedürftigkeit. Solidarität aber ist mehr: Sie zeigt sich nicht nur im gemeinsamen Kampf für gerechte Verhältnisse, sondern ist selbst ein Ziel. Solidarität verlangt nach gesellschaftlichen Institutionen, die für Ausgleich und Teilhabe und damit für ein würdevolles menschliches Zusammenleben sorgen. Die Französische Revolution wusste um die Bedeutung von Solidarität. Neben Freiheit und Gleichheit verlangte sie bekanntlich auch das, was die Revolutionäre damals Brüderlichkeit nannten. Übersetzen wir „Fraternité“ zeitgemäß mit „Gesellschaftlichkeit“, wird die immense Bedeutung, die in dieser Forderung steckt, klar. Es geht nicht um soziales Gedöns, wie es neoliberale Politiker gerne verstanden wissen wollen, sondern um etwas, das durch den Neoliberalismus fast komplett zerstört worden ist – die Erkenntnis, dass es gesellschaftlicher Institutionen bedarf, um Freiheit und Gleichheit zu sichern. Solidarität ist weit mehr als das Gefühl innerer Verbundenheit. Solidarität steht für die Verpflichtung aller, für das Ganze einzustehen.
Solidarität ist ein schillernder Begriff. Linke verwenden ihn ebenso wie Rechte und Neoliberale – und alle verstehen etwas anderes darunter. Ist es deshalb überhaupt sinnvoll, sich auf einen Begriff zu beziehen, der eine so unklare Bedeutung hat?
Gerade weil der Begriff der Solidarität mitunter missbraucht wird, ist die Entfaltung eines kritischen Verständnisses notwendig. Eines, das aufzeigt, wie problematisch die neoliberale Überhöhung von Freiheit ist. Vielen Menschen hat die Aufkündigung von Gesellschaftlichkeit nicht ein Mehr an Freiheit, sondern nur eine Art Vogelfreiheit gebracht. Inzwischen ist die soziale Verunsicherung – wir können auch sagen: Ent-Sicherung – von Menschen zum Weltrisiko Nummer eins geworden.
Daraus versuchen derzeit die rechten Kräfte Kapital zu schlagen und appellieren an eine exklusive Solidarität. Was unterscheidet die exklusive Solidarität von einer linken?
Nehmen wir das Beispiel Polen, wo die PiS-Partei im Oktober erneut Wahlen gewonnen hat. Zustimmung erfuhr die politische Rechte nicht zuletzt deshalb, weil sie sich für öffentliche Daseinsvorsorge starkgemacht hat. Sie tat das allerdings in Abgrenzung zu anderen und bediente so rückwärtsgewandte Ressentiments. In den Vorstellungen der Rechten ist Solidarität nur in möglichst homogenen Gemeinschaften möglich, in denen das Fremde keine Rolle spielt. Was die politische Linke dem entgegenzusetzen hätte, ist eine kosmopolitische Idee von Solidarität. Eine, die darum weiß, dass die großen Probleme der Zeit, der Klimawandel, die Zunahme von Konflikten, die weltweite Armut, nur im globalen Kontext gelöst werden können. Wer meint, solche Probleme durch Abschottung lösen zu können, irrt.
Die Fraternité, die Brüderlichkeit in der Französischen Revolution, lässt sich auch interpretieren als Zusammenschluss der Brüder gegen den König. Braucht es für die Solidarität ein Außen, gegen das man sich solidarisiert?
Dieses Argument hat mir nie eingeleuchtet. Solidarität hat etwas mit der Verwirklichung von Menschenrechten zu tun, und deren Grundsatz ist die Universalität. Mag sein, dass diesem Grundsatz feudale Strukturen entgegenstehen, aber ein Außen als solches braucht Solidarität explizit nicht. Das Außen kommt erst ins Spiel, wenn die Idee universeller Rechte auf das Bemühen um Sicherheit reduziert wird. Das ist gegenwärtig der Fall. Sicherheit ist etwas, das man auch partikular, etwa durch Abschottung, realisieren kann. Das Recht dagegen ist dem Anspruch nach immer universell.
Internationale Klassensolidarität lebt auch vom Austausch mit Beschäftigten im Globalen Süden. Ich kann mich mit einer Textilarbeiterin aus Bangladesch leichter solidarisch erklären, wenn ich eine konkrete Person vor Augen habe. Sind Austausch und Nähe Voraussetzungen für Solidarität?
Begegnungen zwischen Menschen helfen, das Gemeinsame herauszufinden und zu erkennen. In Städtepartnerschaften oder auch dem Austausch, den Kirchen organisieren, liegt eine Menge Kraft. Aber noch mal: Das Prinzip ist, dass wir am Ende auch solidarisch sind mit Menschen, die wir nicht kennen. Die Menschenwürde für alle zu verwirklichen, erfordert eine Abstraktionsleistung, die über das konkrete und unmittelbare Erleben hinausgeht.
Aber lässt sich konkrete Solidarität im Lokalen leichter organisieren?
Das Globale steht im Verhältnis mit dem Lokalen. Um beispielsweise sinnvolle gesundheitliche Prävention betreiben zu können, brauchen lokale Zusammenhänge nicht nur eigene Entscheidungsbefugnisse, sondern auch die entsprechenden Mittel. Die können durchaus zentral zusammengetragen werden. Durch Institutionen, die etwa Steuern einnehmen und dafür sorgen, dass notwendige gesetzliche Grundlagen geschaffen werden. Die Frage hingegen, was mit den Mitteln geschehen soll, muss möglichst weit unten in kleineren Zusammenhängen beantwortet werden. In Skandinavien entscheiden die Kommunen über die Prioritäten bei der gesundheitlichen Prävention. Soll das Geld in den Bau einer neuen Sporthalle fließen, in einen neuen Trimm-dich-Pfad oder in Ernährungsberatung an Schulen? Aber ohne einen übergreifenden solidarischen Finanzausgleich wird auch im Lokalen nur wenig zu entscheiden sein.
Was heißt das jetzt übertragen auf die globalen Verhältnisse?
Seit Jahren mache ich mich für eine globale Bürgerversicherung stark. Weltweit gesehen sind genug Mittel da, um allen Menschen der Welt den Zugang zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Es scheitert nicht am Mangel an Ressourcen, nicht am Wissen, sondern nur an der Bereitschaft, den Ausgleich zu realisieren. Es ist eine Frage der Politik, aber auch eine Frage der Öffentlichkeit, sich bereit zu erklären, auch für die Gesundheitsbedürfnisse von Menschen in Südasien oder in Afrika einzustehen. Noch sind wir weit von der Einsicht in die Notwendigkeit eines solchen globalen Austauschs entfernt. Die Idee internationaler Solidarität, von der wir früher so oft gesprochen haben, muss heute inhaltlich neu bestimmt werden.
Kann der Staat die Rolle einer zentralen Stelle einnehmen?
Ich spreche mit Absicht nicht von staatlichen Institutionen, sondern von gesellschaftlichen. Mir geht es nicht darum, Nationalstaaten das Wort zu reden, sondern einer gesellschaftlichen Verantwortung, die sich in gesellschaftlichen Institutionen materialisiert. Das müssen nicht zwangsläufig staatliche Institutionen sein.
Sondern?
Austausch und die Teilhabe können auch über gesetzlich geregelte Selbstorganisationen ermöglicht werden. In unserem Krankenversicherungssystem ist das trotz aller Mängel als Prinzip angelegt. Es wäre eine Aufgabe linker Politik, statt nur die bürokratische Verkrustung solcher Institutionen zu kritisieren, für deren Demokratisierung zu sorgen, sie sozusagen zu vergesellschaften. Nur so kann die Einflussnahme mächtiger Akteure wie der Pharmaindustrie zurückgedrängt und können die Bedürfnisse und Rechtsansprüche der Patientinnen und Patienten ins Zentrum gestellt werden.
Braucht es für eine tatsächliche Verwirklichung der Solidarität eine andere Wirtschaftsform?
Das ist wahrscheinlich die Voraussetzung für Solidarität. Daseinsvorsorge verträgt sich nur bedingt mit profitorientierten und auf Wachstum ausgerichteten Geschäftsinteressen. Gemeingutökonomien funktionieren nur, wenn die vorhandenen Mittel weder unter- noch übergenutzt werden. Was das bedeutet, kann nicht den Opportunitätsüberlegungen privater Kapitalanleger überlassen bleiben. Im solidarischen Ausgleich treten Menschen zueinander in Beziehung und unterstützen sich gegenseitig. Das Solidaritätsprinzip bedeutet, den Rechtsansprüchen auch derer zu entsprechen, die sich den Zugang zu Bildung oder Gesundheit aus eigener Kraft nicht leisten können. Mit der Privatisierung von Daseinsvorsorge, die in den Ländern des Südens viel weiter vorangeschritten ist als hier, werden aber genau die ausgeschlossen, die Daseinsvorsorge am dringendsten bräuchten: die Armen und Mittellosen. Gemeingüter lassen sich nur außerhalb der Sphäre kapitalistischen Wirtschaftens verwirklichen.
Wenn das Ende des Kapitalismus eine Voraussetzung für verwirklichte Solidarität ist, stellt sich die Frage, wie dieses Ende herbeigeführt werden kann. Momentan sprechen viele über Klasse und Klassenkampf. Ist die Klassensolidarität, die sich explizit gegen den Kapitalismus und die Kapitalseite richtet, ein Mittel zur Überwindung des Kapitalismus?
Ich bin nicht sicher, ob die Begriffe „Klasse“ und „Klassenkampf“ weiterhelfen. Es geht vielmehr um die Frage nach dem revolutionären Subjekt. Wo sind die Kräfte, die der sozialökologischen Verwüstung der Welt Einhalt gebieten können? Das ist sicherlich nicht das herkömmlich gedachte Proletariat, und es sind auch nicht nur die Marginalisierten und Ausgegrenzten, sondern auch Mittelschichten und Intellektuelle. Das, was für die Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse notwendig ist, ist sehr vielschichtig. Revolution muss man sich heute eher als Bündel von Initiativen vorstellen, die in ihrem Umfeld notwendige Veränderungen vorantreiben. Da geht es um das Verhältnis zwischen den Geschlechtern, um unsere Beziehung zur Natur, um die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebens- und Produktionsweise, um Fragen der Macht. Das Problem ist, dass heute viele der Initiativen, die sich für eine sozialökologische Transformation engagieren, eher isoliert für sich und nicht aufeinander bezogen arbeiten. Noch fehlt es an einer gemeinsamen, die globalen Zusammenhänge berücksichtigenden Strategie.
Genau das ist eine der Ausgangsüberlegungen einer Klassenpolitik auf der Höhe der Zeit. Damit verbindet sich die Hoffnung, die Partikularisierung linker Politik hinter sich zu lassen, wieder zu etwas Universellem zu kommen.
Dafür braucht es vor allem die Verständigung auf Grundprinzipien. Hier spielt der Antikapitalismus durchaus eine wichtige Rolle. Nehmen wir die nachhaltige Entwicklungsagenda der UN mit ihren 17 Zielen und 169 Unterzielen. Eine wunderbar klingende Programmatik, die scheinbar nichts auslässt. Viele NGOs waren hochzufrieden, dass sie ihr jeweiliges Ziel unterbringen konnten – in der Freude ist das eigentliche Problem aus dem Blick geraten: In den Ausführungsbestimmungen steht, dass für die Verwirklichung der Ziele die Länder jeweils selbst verantwortlich seien und deshalb zuallererst für Wachstum zu sorgen sei. Von einer gerechten Verteilung vorhandener Ressourcen ist dagegen nicht die Rede. Letztlich wird mit dieser Agenda eine Quadratur des Kreises versucht. Wie aber kann mit einer zerstörerischen Produktionsweise die Umwelt gerettet und wie mit einem System, das systematisch Armut produziert, die Armut aus der Welt geschafft werden? Nachhaltige Veränderung gelingt nur, wenn wir das Ganze im Blick behalten.
Braucht es dafür eine Utopie?
Es geht um die Entwicklung von Ideen, die wir der Zerstörung entgegenstellen können. Wir müssen deutlich machen, dass es anders geht. Dafür bedarf es auch einer Vision von Gesellschaftlichkeit im globalen Kontext. Eine, die nicht mehr von Konkurrenz und dem Streben nach privatem Profit getragen wird, sondern von der gegenseitigen Sorge und der gemeinsamen Verantwortung für das Ganze, von Solidarität.
Info
Dieses Gespräch wird am 7. Januar auch in der neuen Ausgabe des Onlinemagazins kritisch-lesen.de veröffentlicht
Kommentare 56
nun, die "vision von gesellschaftlichkeit im globalen kontext"
ist weiter entfernt, als uns wohlfahrts-staatlern lieb ist.
man denke nur an die not-wendigkeit spendabler menschen
in gegenden, wo rechts-ansprüche auf krankenversorgung
nicht durchgesetzt sind. trotz gesellschaftlichen reichtums.
und die individuelle daseins-vorsorge, zwar angefochten,
aber weiter dominiert: USA
--->"ein krankes system. welches thema die wahl in den USA
wirklich entscheidet"von elisabeth zerofsky. tagesspiegel, 18.12.2019:
"einer von zehn amerikanern sagt, er kenne einen, der gestorben ist,
weil er sich keine medizinische versorgung leisten konnte."
Absolut einverstanden, sehr gutes Interview. Ergänzen möchte ich nur die Rolle der Vernunft. Sie ist seit der Aufklärung das Bindeglied von ethischem Bewußtsein und gesellschaftlicher Reflexion, der Idee von Politik. Der politische Mensch ist der sich aufs Ganze beziehende Mensch, der das Richtige für Alle anstrebt. Der das für ihn selbst Richtige anstrebt, das verallgemeinerbar ist. Also die Idee der gesellschaftlichen Selbstbestimmung. Das ist ein mühsamer, irrtumsbehafteter Weg, der auf Metabedingungen verweist: Bildung und Kommunikation; und damit auf metapolitische Ziele, die selbst schon schwer genug zu verwirklichen sind.
Sollte Solidarität nicht eine innere Einstellung, eine Selbstverpflichtung sein? Versucht Gebauer nicht, die Hilfe zu entmoralisieren und entpersönlichen durch Solidarität, die das wichtigste Moment in einem substantiellen Rechtsbegriff in Anspruch nimmt, Gerechtigkeit? Recht ohne Gerechtigkeit ist sinnlos. Ich verstehe Solidarität als Identifikation mit den Vielen, im Idealfall Allen, das Verantwortlichsein für alle, weil man Teil von allen ist, also ein Wir.
"Ich will aber nicht", sagte Trotzkopf mit energischer Stimme.
"Solidarität" würde ich nicht mit einer Ethik der Pflichten verbinden, sondern als ein Verhalten der Menschlichkeit, das sich ohne Hintergedanken (wie du mir so ich dir) auskommen kann.
Es ließe sich auch als "Dienst an sich selbst" begreifen, da über die Verbundenheit (Abhängigkeit) aller, es letztlich auch mir selbst zugute kommt.
Aber natürlich lässt sich das auch alles ignorieren. Nur, welche Gesellschaft will das schon, selbst bei allem Vorrang der Ökonomie? Denn die läuft doch nur, weil es diese Basis irgendwie noch gibt. Dazu passt dann noch der Glaube an den "Kapitalismus als natürliche Wirtschaftsordnung", eine Formulierung, die ob der Naivität (Dummheit?) wohl kaum noch zu toppen ist.
Solidarität und Wettbewerb schliessen sich aus. Die jetzt, zur Weihnachtszeit, wieder massenweisse Hilfe für die Armen dieser Welt, entspringt nicht nur dem Neoliberalismus, nein, es stabilisiert und prolongiert ihn obendrein auch noch. Pervers. Schuldgefühle und schlechtes Gewissen werden kurzfristig kompensiert. Das ist aber dann auch schon alles. So werden Krümel verteilt, von denen man noch nicht mal weiss, ob sie die echt Bedürftigen je überhaupt erreichen. cash flow bizzar - Das "Negerlein" an der Krippe in der Kirche nickt(e) auch noch dankend, wenn ein Groschen in seinen Kopfschlitz geworfen wird. Indignez-vous!
ökonomische rivalität, verdrängungs-wettbewerb
ko-existiert seit jahrtausenden mit mild-tätigkeit
und bedauern für not-lagen.
oda?
„ein Verhalten der Menschlichkeit, das ohne Hintergedanken (wie du mir so ich dir) auskommen kann.“ Das kann man so sagen. Nur der Deutlichkeit halber würde ich es anders ausdrücken. Menschlich ist ja auch lügen und betrügen, und das kann auch ohne Hintergedanken geschehen, unbewußt, gemeint ist aber mit Menschlichkeit ein allgemein wohlwollendes Verhalten anderen Menschen gegenüber. Solidarität heißt nicht, daß ich der Person A behilflich bei der Befriedigung ihres Bedürfnisses B(A) bin, weil ich A persönlich etwas Gutes tun will, sondern weil A ein Mensch ist und insofern ich in B(A) ein legitimes allgemeinmenschliches Bedürfnis sehe. Solidarität realisiert sich im Handeln fürs Ganze, weil ich mich als Teil des Ganzen weiß.* Da solidarisches Handeln Handeln im gemeinsamen Interesse ist, bedarf es keiner Moral und keiner äußerlichen Pflicht, allenfalls der Verpflichtung, nicht im egoistischen Interesse gegen das Allgemeininteresse zu handeln. Und so entspricht Gebauers Plädoyer für Solidarität statt privater Mildtätigkeit genau einer emanzipativen Politisierung, die von legitimen Interessen ausgeht und von vernünftiger Einsicht. Eine solche Gesellschaft wäre eine gute Gesellschaft.
* Liebe kann weiter gehen. Da kann man sich mit Interessen identifizieren, die nicht die eigenen sind. Solche Liebe kann bis zur Selbstaufgabe gehen, allgemein sollte in diesem Begriff die Selbstlosigkeit enthalten sein.
>>Solidarität ist die Fähigkeit auf seinen eigenen Vorteil zu verzichten.<<
Wobei der solidarische Vorteil eben in der Gewissheit besteht, in einem Zusammenhalt nicht total abstürzen zu können.Erst mal in Gesprächen, ich bei Wein,
B bei Bier , öffnen wir uns. Wir sind beide Kinder des Kaputtalismus, entdecken aber immer mehr Gemeinsamkeiten und entwickeln allmählich das Bedürfnis, uns zusammenzuschliessen. Auch mit J und F.
Im grösseren, ökonomischen Rahmen fällt mir Mondragon ein. Ich denke, die wissen sehr gut, wo sie heute ohne die ETA stünden. Auch wenn sie es nicht sagen. Tut mir leid, das so sagen zu müssen, aber ein gewisser Realismus kann halt nicht schaden.
Der eigenen "Einsicht (nicht) zu folgen", nenne ich mal den Verzicht auf Urteilskraft. Aber die Umstände können einen dazu zwingen (und das dürfte gar nicht so selten sein), gegen letzteres gehandelt zu haben.
"Solidarität", die sich nicht irgendwelchen Moralsystemen unterwirft (also sich nicht normativ erklärt) und der Ethik (Moralphilosophie) zugänglich ist, meint: sich zur Handlung reflexiv stellen und erklären zu können.
Diese "Haltung" kann in Übereinstimmung mit einer Verpflichtung stehen, wird durch diese aber nicht entwertet. "Solidarität" betrachte ich auch nicht irgendwie universell geschuldet (sowohl praktisch wie auch theoretisch) und ist doch ein unverzichtbares menschliches Vermögen, dass sich mit Formulierungen wie die von @Schramm "Solidarität ist die Fähigkeit auf seinen eigenen Vorteil zu verzichten." beispielhaft erklären lässt.
Und warum "Solidarität sein sollte"? Weil es jedenfalls nicht mehr unsere bekannte Gesellschaft wäre, falls Solidarität nicht mehr ausgeübt würde. Und das hat natürlich auch mit dem Erkennen des Guten zu tun, weil Solidarität natürlich kein Blankoscheck ist, der noch auf jedes "Dreckschein hin" gezogen wird.
Ein Thema lässt sich aufgrund immer neuer Erkenntnisse in einer dynamischen Welt wohl nie endgültig abschließen, aber doch zum jeweiligen Zeitpunkt so behandeln, dass es den jeweiligen Gegebenheiten am besten entspricht. Und das sollte doch der Sinn von fruchtbaren Diskussionen sein und nicht der Versuch, die möglichen verbleibenden "Unschärfen" zum Mittelpunkt des Ganzen zu machen und damit das Fragezeichen dominieren lassen.
Und wenn ich das trotzdem will? Dann müssten schon starke Gründe dafür sprechen, die sich begründen lassen müssen. Warum müssen? Eine endlose Fragenkette scheitert an den natürlichen Gegebenheiten (Zeit) und macht handlungsunfähig. Und wenn ich das trotzdm will? Dann könnte es eine Strategie sein, die etwas zum Scheitern bringen will, was manchmal ja Sinn machen soll. Und wenn es das auch nicht wäre? Dann vielleicht aus intellektuellem Vergnügen. Aber natürlich ist das alles nicht vollständig und es dürfte noch viele Varianten geben.
Dabei ist Solidarität als Prinzip doch wohl sonnenklar.
"Solidarität ist die Fähigkeit auf seinen eigenen Vorteil zu verzichten." Auch das würde ich so nicht sagen. Ich habe das so formuliert: „allenfalls die Verpflichtung, nicht im egoistischen Interesse gegen das Allgemeininteresse zu handeln.“ Das Allgemeininteresse ist auch mein Interesse, und soweit ein Interessehandeln zum eigenen Vorteil anderen nicht zum Schaden gereicht, ist es mit Solidarität nicht nur kompatibel, sondern im Solidaritätskonzept vernünftig. Nur im Konfliktfall muß man sich zwischen diesen Interessen entscheiden, solidarisch und vernünftig ist dann das uneigennützige Handeln, weil es für die Gemeinschaft insgesamt mehr bringt. Und das ist es dem Solidarischen wert. Hier muß unberücksichtigt bleiben, daß das Individuum gegen die Gemeinschaft recht haben kann, daß sein scheinbar eigennütziges Handeln der Gemeinschaft mehr nützt als das scheinbar kollektiv wünschenswerte.
Bartleby steht für die Idee des Absoluten und seine Unmöglichkeit, für den reinen Tor, Wahrheit und Irrsinn.
Es kann – im Namen des Humanismus – nur eine Selbstverpflichtung geben. Aber die darf man unter der Konzeption der Vernunft beurteilen.
"Aber lege nicht für andere fest, dass sie in gleicher Weise zu wollen haben, dass sie deinen Prämissen zu folgen hätten (...).
Dann hast Du meinen Text anders gelesen, als ich es beabsichtigt hatte. Macht aber nichts, obgleich es eigentlich banal ist, z.B. gesellschaftlichen Regeln folgen zu müssen, (die nicht unbedingt den eigenen Prämissen entsprechen) und doch aus dem demokratischen Prinzip heraus auch für mich gültig sind.
Intellektueller Anarchismus ist in gewissen Ausprägungen auch nur eine Spielart des Kapitalismus, wird nur nicht (mehr) bemerkt.
Wenn Solidarität in einer Art gebraucht wird, wie sie erst durch die unsozialen Gesetzgebungen des Staates notwendig wird (wie z.B. die Tafeln), dann halte ich das nicht mehr für eine "natürliche" Weise der menschlichen "Schenkung" anderen gegenüber, sondern für eine Pervertierung über den Vorrang der Ökonomie. Hier wird "Mensch" instrumentalisiert.
Insoweit Übereinstimmung hier: "Eine Gesellschaft, die sich keine Moral in Form von Gesetzgebung verordnet, wird über kurz oder lang verrotten." Das wäre aber erst das Minimum, denn wenn daraus nicht die gewünschten Ergebnisse eintreten (individuell auch nicht gelebt werden können), dann ist es eine bloße Formalie. Denn in D. lässt das GG trotz der Definition der menschlichen Würde Zustände zu, die dem (meines Erachtens) krass widersprechen.
Die persönliche Einstellung dazu bleibt natürlich immer eine persönliche, wird sich dann aber wohl ob der Gewichtigkeit der Argumente sicher der allgemeinen anschließen, zumindest dann, wenn die Urteilskraft nicht ausgeblendet wird.
Sollte man nun von anderen auf diesen Zusammenhang hingewiesen werden, dann ist das keine Erzwingung der Übernahme fremder Ansichten, sondern das logische Ergebnis aus dem vorliegenden Sachverhalt, nicht mehr und nicht weniger (allgemein gemeint).
Grüße
Ein wichtiger Artikel. Auch in unserem Land führen wir zu oft eine fiskalpolitische Verteilungsdebatte unter Ausschluß von indivuellen existenziellen Garantiebedingungen.
So existiert beispielsweise in der Gesundheitspolitik eine erhebliche Diskrepanz zwischen den Ansprüchen aus Artikel 2.2 GG - hier dem Recht auf körperliche Unversehrtheit, und der Position der Legislative, welche einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf monetär unbegrenzte medizinische Versorgung lediglich bei akuter Lebensgefahr notiert. (siehe auch den Hinweis auf das sogenannte "Nikolausurteil" des BVerfG) So kann es dann sein, dass mit Verweis auf die Kostenfrage eine möglicherweise heilende (schulmedizinische!) Therapie eines schwerst gehandicapten Bürgers verweigert wird. Ich kenne aufgrund persönlicher Erfahrungen im Rahmen meines politischen Engagements hunderte realer Beispiele für derartige Entgleisungen im Gesundheitsbereich.
Ein anderer Themenkomplex sind Individualrechte wie das heimatnahe Wohnen im Zuge von Gentrifizierung.
Wir sollten wieder mehr über Bürgerrechte mit Blick auf die beiden untersten Ebenen der Bedürfnispyramide von Maslow debattieren.
Erst dann nämlich wird das Prinzip des verpflichtenden Eigentums mit lebendigem Sinn erfüllt. Und zu diesen staatsbürgerlichen Pflichten gehört erstinstanzlich der Schutz existenzieller Grundrechte meiner Mitbürger unter gesetzlichem - nicht freiwilligem - Einbezug meiner eigenen monetären Mittel.
Nein, kein „RECHT auf sein SOSEIN“, in keinem System des Rechts, in keiner Vorstellung des Rechts hat der Mörder ein Recht auf sein Mördertum. Im übertragenen Sinn könnte man vom Recht der Natur sprechen, was aber begrifflich Unsinn ist. Die Natur bringt tödliche Viren hervor, wir Menschen versuchen, diese auszurotten. Aber der Natur ist es gleichgültig, ob die Viren oder die Menschen die Oberhand gewinnen, es bleibt, prinzipiell sicher, beim patt.
Wir müssen den Mörder als Mensch anerkennen, darum hat er aber keineswegs ein Recht auf Mord.
Daß ich aus „persönlichen Vorlieben eine eifernde Mission“ mache, klingt mir nach einer Projektion eines relativistischen Rechthabers.
PS. Daß der Nihilismus in allen (post)modernen Menschen steckt, auch in mir, verleugne ich nicht. Daß bei mir das Neinsagen zu kurz kommt, kann ich nicht nachvollziehen. Was den Kapitalismus betrifft: da überwiegt der Widerwillen, ich denke für viele eher zu stark, Vereinseitigung ist jedoch kein inneres Anliegen meinerseits.
Um dies hier noch einmal ganz explizit zu machen. „Bartleby“, „Wakefield“ (Hawthorne), „Das verräterische Herz“ (Poe), vieles von Borges, der ganze Kafka, das alles ist großartige Literatur, nur thematisiert oder phantasiert sie den Bruch von Individuum und Gesellschaft, oder den entsprechenden Bruch im Individuum. Daraus kann man keine alternative Lebensweise machen, das ist nicht lebbar.
"Du bist ein ganz geschickter Rhetoriker^^", oh Dankeschön, soll auch nur guten Zwecken dienen, wozu auch der Versuch gehört, dich ab und an ins Grübeln zu bringen. :-)
Was mir des Öfteren durch den Kopf gegangen ist in dem Zusammenhang, betreffend überzeugender Argumente, was wohl die Folge wäre bei absolutem Wissen? Also die Konflikte (Widersprüche) die Auftreten, wenn man Unendlichkeiten im Sinne göttlicher Eigenschaften denkt (nicht im Sinne umgreifenden Verstehens), womit sich ja einer der klügsten Menschen wie Leibniz ausführlich in der Theodizee beschäftigt hatte.
Denn was bliebe von der so hoch geschätzten (überschätzten?) Freiheit der Entscheidungen übrig, wenn man immer die beste aller Entscheidungen treffen könnte, weil allumfassendes Wissen und allumfassende Macht zur Verfügung stünde. In gewisser Weise ergäbe das für mich eine Determinierung, wenn auch ggf. gegen besseren Wissens gehandelt werden könnte, was dann gleich einem anderen Anspruch widerspricht.
Kurz, so gedacht könnten "Überraschungen", die Freude von Entdeckung und Lernen nur erhalten werden, wenn - falls es eine solche Größe (Macht) geben sollte - die Absolutheit gezielt reduziert wird. Und das könnte eine Weise (Ausprägung) sein, warum es uns individuelle, denkende und fühlende Lebewesen überhaupt gibt. Nämlich diese jeweils einmaligen Erfahrungen zu machen, wie sie nur körperliche Wesen erfahren können. Also allumfassendes Wissen in eine neue, (aber reduzierte) Existenz zu bringen, wie sie eine Absolutheit nicht "erfahren" kann. Sozusagen eine Erfindung des Absoluten, um innerhalb dessen diese noch qualitativ anzureichern, durch immer währende, neue Integration "ewigen Lebens".
Ein wenig Gedankenspielerei.
"Ist mir gleich gültig, ob als Folge einer meiner Entscheidungen in 375 Jahren irgendjemand glücklich oder unglücklich und die Menschheit in 7243 Jahren ausgerottet wird oder nicht."
Letzteres wäre es für mich keinesfalls! "Angemessen leben" ist eine schöne Formulierung, das wollen auch die Vermögenden, also alles eine Frage der Perspektive. Und doch (...), zumindest weniger ist für jene machbar und sollte auch durchgesetzt werden. Denn Begrenzungen nach unten (also das Existenzminimum) wird vorgegeben und schafft dadurch existenzielle Probleme, dagegen in der anderen Richtung analoges fordern, gilt quasi als Tabu.
Aber darüber dürften wir wohl keinen Dissens haben.
Jeder Mensch kann zum Mörder werden. Das gehört zu seiner Natur. Zu seinem, wenn man das so ausdrücken will, „Sosein“. Absolut unbegreiflich ist mir Lethes und Ihr Verständnis von Recht. Recht ist menschengemacht, eine moralische oder ethische oder auch nur funktionale Ordnung. Die muß immer diese Möglichkeit menschlichen Handelns ausschließen. Wenn man nicht an Gott glaubt, gibt es kein göttliches Recht neben oder über dem menschlichen. Und die Natur kennt kein Recht. Wovon also reden Sie?
Das Recht auf ein Potential zu haben? Oder das Recht auf eine Einsicht? Was ist das für ein Quatsch.
Ich gehöre eher zu den Menschen, die sich nicht so schnell angewidert von den Menschen distanzieren, wenn sie etwas Dummes, Schlechtes oder Häßliches getan haben, ich frage mich zunächst, warum sie das getan haben, suche nach den Zwängen, weil ich vorrangig Zwänge vermute. Aber selbstverständlich gibt es verachtetes, verachtenswertes menschliches Verhalten, sobald wir eine Vorstellung des Wahren, Guten, Schönen gebildet haben. Tiere tun das nicht, wir schon. Ich kenne niemanden, der ohne solche Wertungen durchs Leben läuft. Das muß aber nicht justiziabel sein. Recht ist nur eine konsensuelle/konventionelle Einschränkung des ethisch erlaubten Handelns.
Nur für Leser, die sich für die thematische Wende, die der Thread genommen hat, interessieren, die anderen mögen diesen Kommentar freundlich ignorieren.
Ich mag eigentlich nicht persönlich werden, aber in diesem Fall geht es wohl nicht anders. Denn Deine Position ist kaum verallgemeinerbar, sehr persönlich. Oder ein bißchen „altersweise“, was ein falscher Begriff ist, denn im Alter wird man eher närrisch. Ich wage, Dich zu interpretieren. Ich habe Dir den Nihilismus vorgehalten, was aber nicht als ethische Kritik zu verstehen ist. Zu einer solchen Position kommt man nur durch „Enttäuschung“, das meinte ich mit „leiden“. Nun können alle hier sehen, daß Du nicht mehr daran leidest, sondern Dich eingefügt hast, den objektiven Status der Welt akzeptiert hast. Du bist gewissermaßen mit der Gleichgültigkeit der Welt eins geworden, das verstehe ich als „buddhistische Erleuchtung“. Auch ich hoffe, in den Momenten meines Sterbens diese Gleichgültigkeit erreicht zu haben, dann ist der Übergang ins Nichts zwanglos. Aber das ist die Vorwegnahme des Todes. Was mir nicht einleuchtet, ist, diesen Standpunkt des Todes im Leben einzunehmen. Leben ist nicht Gleichgültigkeit, sondern Interesse, Streben, Sich-ernst-nehmen, an-die Zukunft-denken, Leben-wollen, nicht Tot-sein-wollen.
Vielleicht wird Dir das nicht gerecht, denn mir scheint, daß Du nicht nur wie ein Fisch im Wasser des übervollen Nichts schwimmen willst, sondern durchaus dem subjektiv Wünschenswerten Raum läßt, wenn auch nur im Rahmen des „Schönen“; daran ist richtig, daß das Schöne der bevorzugte Ort der Wünsche und Wunscherfüllung ist. Es betrifft jedoch ebenfalls die zwei anderen Kategorien. Wir denken nicht nur, sondern möchten richtig denken, daher bemühen wir uns um Wahrheit. Wenn man Wahrheit nicht zu einem unerreichbaren Absoluten stilisiert, gibt es sehr wohl ein wünschenswert „in Wahrheit leben“, also das Leben durch assimilierendes und akkommodierendes Denken zu führen. Und Wahrheit betrifft nicht nur die objektive, sondern auch die subjektiv-menschliche Welt.
Der Bereich des „Guten“ ist die biofunktionale Bewertung von Lebensformen. Lebewesen haben Interessen, der Mensch reflektiert sich und kann seine Interessen erkennen. Ich würde nie auf die Idee kommen, menschliche Interessen grundsätzlich infrage zu stellen, aber es gibt Interessenskonflikte und Interessensperformanz, die im Sinn der Biofunktionalität nicht optimal ist, eine Optimierung, die das Wünschenswerte definiert. Ethik zielt auf das gute Leben. Lehnst Du solches Wünschenswerte ab? Menschen leben, überleben in Herrschaftsordnungen. Muß man das als unumgänglich hinnehmen, oder kann man wünschenswerte Formen der (nie voll erreichbaren und ungefährdeten) Herrschaftsfreiheit erfolgreich anstreben? Kann man dieses Ziel wie Freitag vom Tisch wischen?
Zum Schluß die eigentliche Domäne der Freiheit, des Wünsch- und Erreichbaren, das Schöne. Ich bin ja kein Anhänger der Einstellung, Kunst (das Schöne, Ästhetik) sei Geschmacksache, bin nicht der Ansicht, daß ästhetisch anything goes. Auch die Kunst formuliert eine (rein subjektive) Notwendigkeit, gerade ihre Freiheit besteht wie von Hegel allgemein formuliert in der Einsicht in die (subjektive) Notwendigkeit. Selbstverständlich führt das nicht wie im Falle objektiver Wahrheit zu der unerreichbaren Idee einer Einziggültigkeit, und damit zum Vorbehalt eines methodologischen latenten Kritizismus, sondern zu unendlicher Vielfalt, aber eben nicht zum Relativismus.
Selbst das versucht man noch zu hinterfragen (relativieren). Hier scheinen sich einige in intellektuellen Worthülsen zu gefallen, wobei diese Themen sie ernsthaft nicht berührt (interessiert). Hauptsache, man kann in allen Beiträgen eine "Duftmarke" setzen. Was soll man sonst auch schon machen, um seine Zeit totzuschlagen. Kurz: horror vacui!
"Hitler hatte die selbe Idee wie Gebauer"
Ich würde Ihnen gern was passendes erwidern, allein: Mir fällt ausser ungläubigem Kopfschütteln nicht viel dazu ein.
"Bartleby kooperiert"
Ja, knappe drei Tage.
"Was hätten Sie an deren Stelle getan, um den "Parasiten" loszuwerden bzw. warum war es hier so schwer? Finde ich spannend und hat mit meinem 2. Absatz zu tun....:)
Wer hier wie Sie, Bartleby als "Parasiten" sieht, hat die Intention Melvilles womöglich missverstanden.
Dieser Schlusssatz einer älteren Rezension trifft es m.E. gut:
"Melville zieht den sanften Menschenfeind Bartleby, der nicht mitzumenscheln bereit ist und sein Leben opfert, offensichtlich jenen vermeintlichen Menschenfreunden vor, "die gar nicht bemerken, daß sie – wie der erzählende Notar – von der Feindschaft zwischen den Menschen profitieren und existieren."
https://www.zeit.de/1982/50/herman-melville-bartleby
Deine letzten beiden Kommentare an @Freitag20 (die ich etwas verspätet gelesen hatte): ****** .
>>Die Grundregeln eines Streiks, aha. Wer hat die den entwickelt und zum Gesetz erhoben?<<
Niemand. Streik bedeutet: Die Arbeitskraft wird nicht mehr geliefert, wenn der Käufer die neuen Bedingungen (zum Beispiel Preiserhöhung wegen steigender Kosten) nicht akzeptiert. Konkurrenz unter Arbeitskraftverkäufern führt zu Preisverfall und sollte deswegen unterbunden werden.
Man könnte sagen: Eine Grundregel des Marktes. Sie kennen das, auch wenn Sie nicht vom Verkaufe der Arbeitskraft leben: Wenn eine Ware mehr kostet bezahlen Sie oder Sie bekommen nichts.
>>So reden auch die Kapitalisten...<<
Wahrscheinlich wollte er neulich einen Kurztrip nach Paris unternehmen und hat jetzt Wut im Bauche weil gleichzeitig Flughafen und SNCF bestreikt wurden ;-)
Korrektur:
>>...Flughafen...bestreikt...<< = Lufthansa
>>Er hat zu seiner Sichtweise jedes Recht, genau wie Sie zu Ihrer.<<
Und die Streikenden haben jedes Recht, den Streik durchzusetzen.
Auch wer sich neutral halten will weil selbst unbetroffen, stellt dann eben fest: Wenn die Streikenden in der Mehrheit sind, können sie den Streikbruch verhindern.
Mir ist aus den 80er Jahren der Fall eines belgischen Chemiebetriebes bekannt, in dem die gewerkschaftlich Organisierten ein tarifliches 13. Monatsgehalt erstreikt hatten. Die Geschäftsleitung entschied, rechtlich völlig korrekt, Dieses nur an Gewerkschaftsmitglieder auszuzahlen. Wenige Tage nach Bekanntwerden dieser Entscheidung war der Betrieb zu fast 100 % gewerkschaftlich organisiert. Wahrscheinlich der einzige Fall, in dem eine Firmenleitung den Streikbrechern einen Lernprozess verordnete ;-)
Die "Verzweifelung des Streikbrechers", interessante Variante für dessen Haltung. Dem ließe sich doch sicher abhelfen.
Der Streikbrecher ist sich über die möglichen Folgen seiner Haltung wohl gewiss und er schädigt damit die Interessen derer, die dann auch noch ggf. für ihn selbst Verbesserungen erzielen.
Hier geht es nicht nur um "Klassenfragen", sondern um elementare Verhaltensweisen, ob jemand dadurch andere schädigt (verletzt, benachteiligt, behindert usw.) werden oder nicht. Insoweit gibt es eine Grenze der Neutralität, die, wenn sie verletzt wird, mit entsprechenden Folgen zu rechnen hat.
Du kannst das Thema ja gerne auf höherer, theoretischer Komplexitätsebene der idealen Gerechtigkeitsvorstellung behandeln, die hat aber in der Praxis und auf die Praxis wenig Einfluss. Im Übrigen kannst Du diese theoretische Luxusargumentation nur führen als Ergebnis all dieser Streiks und Kämpfe derjenigen, die sich von den "Streikbrechern" abgehoben haben.
Krasser Text von Jack London.
Es reicht von der Sache her schon zu verstehen, dass Streikbrecher im Auftrag anderer unterwegs sind, also als Mittel zum Zweck auf Seiten der Arbeitgeber. Deshalb kommen diese Personen ja auch meistens nicht aus dem gleichen Betrieb. Und die dafür extra Bezahlung "Judaslohn" zu nennen, hat was für sich.
Von Judas gibt es Erzählungen, die davon berichten, dass er Jesus mit seiner Tat zu einem "Wunder seiner Macht" veranlassen wollte. Er wäre dann mehr am Diesseits und weniger am Jenseits interessiert gewesen. Das würde allerdings seiner Position als "Verräter" nicht gerecht werden, wie sie zur Abrundung der Erzählungen benötigt wird.
<… nie frei vom "Standpunkt des Todes" - es ist lediglich möglich, sein Bewusstsein darüber hinwegzutäuschen> Ich denke nicht, daß sich irgend jemand, der über das Kleinkindalter hinaus ist, über die Unvermeidlichkeit des Todes täuscht. Allein der drohende Tod eines nahen Verwandten, insbesondere eines eigenen Kindes führt manchmal zur Verdrängung.* Das Ziel des Lebens ist die Lebenserhaltung, und da kommt die Todesdrohung zunächst nur im Fall einer schweren Krankheit ins Spiel und selbstverständlich, wie ich sagte, bei der Annäherung an den Alterstod. Wo sonst an den Tod anders als den Gegenspieler des Lebens gedacht wird, liegt eine Pathologie oder schwere psychische Störung vor, denn die Todesangst (zu unterscheiden von einer Todesfurcht) lähmt und schwächt. Auch eine zu starke Ausprägung des Todeskults in einer Kultur ist selbstredend kein Zeichen einer vitalen Kultur.
Es gibt den ängstlichen und den draufgängerischen Typ, und es gibt (A) und (B). Allerdings: <Menschen richten sich ihr Leben so ein, dass es ihrer Veranlagung (A) oder (B) entspricht, Überlappungen zugestanden> trifft es mE nicht so gut, die reinen Typen (A) und (B) sind exotisch, die Regel ist eine starke Mischung von beiden. Und (B) muß man sich leisten können. Wenn aber im Individuum beide Motive eine starke Rolle spielen, gibt es keinen Grund für die von Dir behauptete Dynamik, wenn man sich nicht mehr in andere Lebensentwürfe hineindenken kann, muß das andere Gründe haben (zB identitäre).
Immer wieder beschreibst und unterstellst Du Dein Narrativ des Flipp-Flapp, aber Du begründest es nicht. Sicher spielen wir ein bißchen, wie Freitag sagt, Pascals Spiel. Aber es ist ein unfaires Spiel zu meinen Gunsten**, daher will ich es gar nicht in Anspruch nehmen. Nein, der Kapitalismus ist nicht zu einem spielerischen zu verflüssigen, sag dem Kapitalisten mal, zurück auf Anfang, neue Liebe, neues Spiel (Leben). Und ich bleibe dabei, beim Wechsel der Ordnungen und der Paradigmen gibt es einen bilanziellen Fortschritt. Aber nur, wenn man nicht dem zu Überwindenden abstrakt ein Anderes entgegenstellt, sondern das überwindet, was sich besser begründen läßt. Man sollte also das Bürgerliche ernst nehmen, indem man unterscheidet, was geändert werden muß, und was erhalten werden sollte. Das nennt man die bestimmte Negation.
<||| Wir denken nicht nur, sondern möchten richtig denken ||| Du sprichst für dich, nicht für alle, zumindest nicht im zweiten Teilsatz.> Ich spreche damit das Prinzip des reflexiven Denkens aus. Selbstverständlich benutzen Menschen das Denken hauptsächlich als Machtinstrument, bei dem es nicht darauf ankommt, „richtig“ zu sein, sondern „erfolgreich, wirksam“. Aber der Erfolg eines sich ernst nehmenden reflexiven Denkens ist seine „Richtigkeit“. Das ist das Denken als Selbstzweck. Diese Tendenz ist dem Denken inhärent. Der Relativist freilich kennt nicht mal ein relatives Wahrsein, er benutzt nur das Denken, für ihn gibt es nur Glauben und Ideologie.
<Dein Schönes, wie hier skizziert, scheint vor allem nützlich zu sein.> An diesem Mißverständnis bin ich selbst Schuld durch meine mißverständliche Formulierung vom „Ort der Wünsche und Wunscherfüllung“, ich habe die kategoriale Unterscheidung des Wahren, Guten, Schönen als des absolut Notwendigen, des funktional auf das Leben bezogen Notwendigen, des zweckfrei Notwendigen, also des reinen Selbstzwecks, vorausgesetzt, geglaubt, das bei Dir voraussetzen zu dürfen. Nur die ethische Ordnung beruht auf einer Nützlichkeit, die jeweils ohne durchgehenden Konsens angenommen wird. Wahrheit ist großenteils vernutzbar, Schönheit nicht (interesseloses Wohlgefallen). Die Kunst ist damit die Domäne der größten Freiheit. Ich vertrete also die Selbstzweckhaftigkeit des Wahren und des Schönen, bestreite aber diesen Standpunkt im Bereich des Ethischen. Und da liegt wohl der Kern unserer Differenz.
* Es gibt sicher essayistische Texte zur Sozialgeschichte des Todes, ein sehr interessantes Thema.
** Dem wirst Du widersprechen. Dazu muß man freilich Deine Vorstellung teilen, daß jedem Wissen ein komplementäres Unwissen zugeordnet werden kann, Erkenntnisfortschritt immer einen äquivalenten Erkenntnisverlust einschließt. Das glaube, wer wolle.
>>Ein Streikbrecher hat eine andere Sichtweise, Zwänge usw. Und er könnte auch recht haben.<<
Aus seiner Perspektive: Wenn er/sie sich bessere Karrierechancen verspricht und davon ausgeht, dass er/sie geschenkt bekommt was die Streikenden erreichen. Es gibt immer ein paar "Trittbrettfahrer".
Deswegen habe ich das obige Beispiel als Einzelfall bezeichnet: Firmenleitungen sind in der Regel nicht so blöd, dass sie Streikbrecher unter Tarif bezahlen oder nur den gesetzlichen Urlaub zugestehen, obwohl das rechtlich nicht angreifbar wäre.
Im Übrigen hat Bella ja schon die Grenze gezogen: Am Betreten des Betriebes hindern: ja, Körperverletzung, evtl. mit Todesfolge: nein.
Noch ein Beispiel für Solidarität: Während des ersten GdL-Streiks 2007 versuchte der deutsche Bahnvorstand, mit attraktiven finanziellen Angeboten Streikbrecher aus Österreich und Tschechien anzuwerben. Es kam niemand. (In Frankreich haben sie es gar nicht erst versucht, warum dürfte bekannt sein).
>>Deshalb kommen diese Personen ja auch meistens nicht aus dem gleichen Betrieb.<<
Es wurde schon versucht, Leiharbeiter als Streikbrecher einzusetzen. Leiharbeiter sind in diesem Falle rechtlich in einer sehr schwachen Position, weil in der Leiharbeitsfirma der Tarif, für den am Einsatzort gestreikt wird nicht gilt.
Allerdings ist der Einsatz ohne Einarbeitung an vielen Arbeitsplätzen nicht möglich.
Beim Bahnbeispiel wäre es wohl so, dass ein Lokführer, der in Österreich z. B. eine Tauruslok oder bestimmte Alsthom- oder Stadler-Triebwagen fährt das hier auch kann.
>>Es geht also nicht per se um "Arbeitnehmer" sondern um Beitragszahler.<<
Das ist in einer Interessenvereinigung immer so.
Die Bezeichnung "Arbeitnehmer" für Profitgeber ist übrigens ein Klassenkampfbegriff von der Kapitalseite.
Sicher, mache Argumentation endet mit einem blauen Auge. Das wird dann, falls im staatlichen Auftrag vollzogen, unter "Kollateralschäden" abgelegt.
Aber falls ich dich richtig lese (was natürlich an der Kalibrierung der Empfangsantenne liegt), interpretiere ich deine Gerechtigkeitsvorstellung allemal als eine relative. Insoweit ist die eingesetzte "Muskelmasse", wie du es nennst, einfach das Ergebnis der jeweiligen Perspektive.
Aber, was @Bella gerade geschrieben hat mit: "(...) gibt es immer noch Leute, die sich allen Ernstes für Linke halten, die Streikbruch mit Meinungsfreiheit rechtfertigen wollen.", ist dem nichts hinzuzufügen, wobei es bei der Pluralität der Linken sicher wieder argumentative Ansätze gibt, gewisse Theoretisierungen endlos fortzusetzen.
"Freitag: Aber was spricht dagegen, wenn Menschen viel Geld für Moskitonetze springen lassen, damit weniger Leute sterben?
Gebauer: Es ist immer eine Frage dessen, was man erreichen möchte. Wenn es darum geht, dann hilft pure Wohltätigkeit nicht weiter. Wenn wir am Ziel der Schaffung sozialer Gerechtigkeit festhalten wollen, bedarf es auch der politischen Intervention. Wer dieses Ziel aufgibt und das Unrecht bestenfalls ein bisschen abfedern möchte, für den ist der „Effektive Altruismus“ vielleicht vernünftig."
Nach solchen Pirouetten aus der Mottenkiste der Kaderrhetorik - auf eine konkrete Frage, hier: Moskitonetze, viel Geld, kommt dann, dass es um darum geht, "Not und Unmündigkeit nachhaltig zu überwinden", dass Wohltätigkeit nicht weiterhülfe usw. , hat man keinen Bock mehr, weiterzulesen.
Die Malariaprophylaxe per Netz wird umgehend zur Frage umgedeutet "am Ziel der Schaffung sozialer Gerechtigkeit festhalten [zu] wollen" und selbstverständlich "bedarf es [dazu] auch der politischen Intervention", aha.
Sicher ist Malaria und ihre Prophylaxe AUCH ein Politikum, - aber in dem Sinne, dass viele der Betroffenen eigentlich auch ganz gut selbst für ihre Netze sorgen könnten, - wenn sie das wirklich wollten - , aber keineswegs NUR politisch zu lösen.
Da ist weniger die Produktion und der Erwerb/Kaufkraft das Problem, sondern das Leben: So ein Moskito-Netz ist nicht gerade easy zu handeln, abends/nachts, wenn man todmüde absinken möchte usw., man ist viel unterwegs und übernachtet notfalls schon mal (halb-) draussen, für das Gästelager auf dem Boden bei den Bekannten/Freunden lässt sich das Ding nicht aufschlagen etc. Es nimmt bei Nachttemperaturen von mehr als 30° C, großer Schwüle usw. auch noch den letzten Luftzug ...
Ziemlich gut funktioniert das Netz ohne ständige Umstände zu verursachen unter den m. o. w. großzügig-konstanten Bedingungen der herrenreiterlichen Kolonialisten.
Und ja: "Es ist immer eine Frage dessen, was man erreichen möchte."
Die EA, notfalls auch als Börsenspekulanten, wollen das Eine, nämlich die Netze, Herr Gebauer das Andere, "politische Intervention" usw. Der Unterschied ist, dass Herr Gebauer (sich? und) seine Zielsetzung für deutlich höherwertiger hält, die Wohltätigkeit ihm im Vergleich zu "seiner Position" geringwertig/inferior erscheint.
Also wie üblich: gäähhhn ---- weckt mich, falls ich durch den Lesestopp irgendwas Wichtigeres verpasst haben sollte.
"Soll ich Ihnen Serres Parasit unter den Weihnachtsbaum legen?"
Gern (aber den Eimer als Zugabe nicht vergessen). Einiges lag bereits auf meiner Festplatte:
"Final sind wir alle Parasiten, wenn wir die Früchte und das Fleisch von domestizierten Pflanzen und Tieren essen und uns in Leder oder Leinen hüllen.
„Der Mensch ist des Menschen Laus. Und so ist auch der Mensch des Menschen Wirt.“
"Wir sind alle Parasiten, die sich einbilden, sie seien die Wirte."
Warum meinen Sie also ausgerechnet mit Serres Ihre einseitige Parasit-Zuschreibung des Bartleby begründen zu können?
Hier wird, um mal einen Deiner richtigen Gedanken aufzugreifen, Korrelation mit Kausalität verwechselt.
Zu Streik(un)willigkeit
Solidarität heißt die Gemeinsamkeit, die kollektive Perspektive betonen, ohne Konformitätszwang, Gleichschaltung. Streikbrecher handeln auf den ersten Blick unsolidarisch, weil sie den Streikwilligen in den Rücken fallen. Andrerseits kann der Streik in seiner Zielsetzung falsch und strategisch unklug sein. Dann handeln Streikbrecher in einem abstrakten Sinne richtig. Dennoch, wirklich richtig wäre es, daß die Streikwilligen und -unwilligen miteinander reden, sich nach Möglichkeit einigen, einen Kompromiß finden oder sich in ihrem unterschiedlichen Handeln wechselseitig anerkennen, eben das Gemeinsame im Blick haben. Nach solchem solidarischen Meinungsaustausch ist es womöglich wichtiger, die Streikeinheit zu wahren als individuell auf dem Richtigen zu bestehen. Das dümmste und unsolidarischste wäre, wenn sich beide Gruppen gegeneinander ausspielen lassen.
"Andererseits kann der Streik in seiner Zielsetzung falsch und strategisch unklug sein. Dann handeln Streikbrecher in einem abstrakten Sinne richtig".
"Streikbrecher" sind in aller Regel der verlängerte Arm der Arbeitgeber, die sich die Unsolidarität (manchmal aber auch Notlagen) anderer Arbeitnehmer zu Nutze machen. Natürlich kann ein Streik in der Zielrichtung falsch sein, aber er zielt wenigstens auf kollektive Interessen, die den individuellen Egoismus überwinden kann.
Also bitte nicht auch noch "Munition" für diejenigen liefern, die u.a. Einzelfälle zur Verallgemeinerung machen, wie sie hier auch mittels des "Fragespiels" betrieben wird. @Lethe meine ich damit ausdrücklich nicht, denn er kann seine Argumente plausibel darlegen (also seine Annahmen und den Begründungszusammenhang).
Wenn "Linke" für eine gerechtere Gesellschaft stehen, die der Definition der menschlichen Würde im GG Gehalt verschaffen will, dann fallen darunter viele Varianten, die die Privilegien der Mächtigen beinträchtigen (müssen). Denn natürlich kann es nicht so bleiben wie es ist und schlechte Versuche widerlegen nicht das Ziel, allenfalls die schlechte Umsetzung.
Wenn dabei aber noch aus dem eigenen "Kollektiv" (abhängig Beschäftigter) so argumentiert wird, als ob der eigentliche Gegner die Linke wäre, dann würde ich ein "blaues Auge" noch als mildes Mittel zur Erkenntniserhellung bezeichnen.
<"Streikbrecher" sind in aller Regel der verlängerte Arm der Arbeitgeber> Das dürfte stimmen, aber wenn man sich überhaupt nicht mehr vorstellen kann, daß ein Streik falsch bzw strategisch unklug ist, mangelt es an Phantasie. Mein Argument war jedoch ein anderes. Selbstverständlich liegt die Stärke der Arbeiter in der Einheitsfront gegen das Kapital. Wer sich als Arbeiter für die Kapitalseite einspannen läßt, handelt unsolidarisch. Man muß wissen, welche Verantwortung man mit der Streikverweigerung in Hinblick auf die gemeinsame Sache übernimmt. Man hat also gute Gründe, auch wenn man den Streik für falsch hält, solidarisch dabei mitzumachen, sich der Mehrheit unterzuordnen um der Einheit willen. Trotz alledem kann man stärkere Gründe haben, sich dem Streik zu verweigern. In diesem Fall muß man einen Weg finden, daß die Streikverweigerung nicht als Solidaritätsverweigerung verstanden wird, beide Seiten sollten sich anerkennen, miteinander solidarisch bleiben, auch wenn man nicht mehr einheitlich handelt.
Es spielt sich hier das Drama des Realsozialismus im Kleinen ab. Im Stalinismus wurden die vielleicht aufrichtigsten Kommunisten exkommuniziert und liquidiert um einer durchaus fragwürdigen Einheit willen, statt solidarisch ihre abweichenden Handlungen und Ansichten zu respektieren und sich bei allen Diofferenzen mit der übergeordneten gemeinsamen Sache zu identifizieren. Freilich gab es auch Abweichler, die ihrerseits den Boden der Solidarität verlassen haben, zu Renegaten wurden, also zu Klassenfeinden.
Natürlich kann man sich dem Streik verweigern, aber sicher nicht mit der Version des Streikbruchs.
Ein äußerst sachdienlicher Hinweis - merci!
...und eine spontane Reaktion auf einen Kommentar unter Außerachtlassung des darauf folgenden Kommentarstrangs - sowas passiert schon mal, selten, äußerst selten natürlich... ;-)
Vorab eine Verständnisfrage an Paul: Ein sich am Streik beteiligender ist ein Verweigerer der Arbeit unter den gegebenen Bedingungen. Ein Streikverweigerer ist jemand, der weiterhin bereit ist, unter den gegebenen Bedingungen zu arbeiten. Er ist also, wenn Kollegen streiken, ein Streikbrecher, oder welchen Unterschied zwischen Streikverweigerer und Streikbrecher übersehe ich?
Selbstverständlich ist die Streikverweigerung unsolidarisch, wenn es ans Eingemachte geht. Aber geht es tatsächlich immer ums Eingemachte? Sollen nicht manchmal Privilegien mit dem Streik erhalten oder ausgebaut werden. Ich hatte hier schon auf die Freifahrten der Eisenbahnerangehörigen in Frankreich verwiesen, oder ist es falsch, das als feudalartige Privilegien anzusprechen? Gibt es keine vernünftigeren Streikziele, mit denen sich die große Mehrheit der Bevölkerung identifizieren kann? Solchen Streiks sich zu verweigern, ist unsolidarisch mit den streikenden Kollegen, aber solidarisch mit der übrigen Bevölkerung. Und wie steht es mit Streiks für die Erhaltung der Arbeitsplätze im Kohlebergbau oder in der Rüstungsindustrie? Müßte da der Streik nicht auf Konversion der Produktion und Arbeitsplätze zielen, um als legitim gelten zu können?
Woran jedoch immer festzuhalten ist, ist die Solidarität, auch die von Streikenden und Streikverweigerern. Daß also etwa die Streikverweigerer nicht die Arbeit der Streikenden übernehmen oder sich mit herangekarrten Aushilfskräften diese Arbeit teilen.
Die Unterscheidung von wildem und organisiertem, formalisiertem Streik verlagert nur das Solidaritätsproblem. Denn in der Regel sind nicht alle Arbeiter organisiert, manchmal nicht in einer einzigen Gewerkschaft. Jetzt verstehe ich Ihre Argumentation. Wenn alle in einer Gewerkschaft organisiert sind, existiert natürlich die freiwillige Zwangssolidarität mit der xy%-igen Mehrheit. Aber wie ist das unter den realen Bedingungen?
"Ein Streikverweigerer ist jemand, der weiterhin bereit ist, unter den gegebenen Bedingungen zu arbeiten."
Zur Verdeutlichung meiner Annahme: Ein Streikbrecher ist derjenige, der gegen den Willen der Streikenden aktiv wird, um in dem bestreikten Betrieb zu arbeiten, also an den Streikposten vorbei usw.
Wer nun in dem Betrieb arbeitet und den Streik nicht für ok hält (aus was für Gründen auch immer), kann sich meines Erachtens immer noch so Verhalten, dass er die "aktive Variante" vermeidet und sich an den Streiks nicht beteiligt. Diese Form wird möglicherweise auch noch den Streikbrechern zugeordnet; ich würde das aber nicht tun.
Schöne Weihnachtstage noch, (auch an alle, die mitlesen).
Einfach ignorieren und nicht auf dieses unstrukturierte "Denken" eingehen: Zeitverschwendung.
Der vormaliger Funktionär Volker Bräutigam trat (2012) mit folgenden Worten aus DGB und ver.di aus:
„Um ´nen Acker umzubrechen reicht es nicht, durch die Hecke zu furzen.“
(Ganze Austrittsbegründung)
Auszug:
"...Der DGB und seine Einzelgewerkschaften sind alles andere als eine spürbare und wirksame Opposition gegen den fortschreitenden Sozialabbau und die Austeritätspolitik im Auftrag der Plutokraten. Die deutschen Gewerkschaften bleiben ganz auf der Traditionslinie, die ich schon 1958/59 hätte erkennen können, hätte ich damals nur mehr Erfahrung und politischen Durchblick gehabt und genutzt, anstatt alsbald Marken ins Gewerkschaftsbuch zu kleben: Damals schon warfen DGB und SPD in schöner Gemeinsamkeit den letzten Rest marxistischen Denkens und entsprechend zielgerichteter Politik über Bord und machten uns vor, “kontinuierliches Wirtschaftswachstum” werde fortan die Klassenwidersprüche einebnen, man brauche also die Revolution nicht mehr. Hoch die Sozialpartnerschaft! (In Deutschland. Und weg mit der Internationalen Solidarität!)
Seither betätigen sich unsere Gewerkschaften zum Nachweis ihrer Existenzberechtigung hauptsächlich als duldsame Begleiter kapitalistischer Ausbeuterei, asozialer Schweinereien und als Stabilisatoren des schändlichen Systems. Stichwort: Schröders Agenda 2010. Überzeugende Aktionen gegen das Hartz-IV-Elend waren und sind nicht zu erkennen; wie auch, in der Kommission zur Vorbereitung der fatalen Gesetzgebung saßen ja unsere Gewerkschaftsfunktionäre dicke mit drin. Und sie verabreichen nun den Opfern milde Salben, statt den Tätern ordentlich Pfeffer zu geben: „Lohnerhöhungen“, die kaum die Reallohneinbuße ausgleichen, stattdessen die Einkommensschere immer weiter öffnen und die prekären Arbeitsformen nicht beseitigen...
Statt Arbeiter-Kampftruppen zu organisieren, geht der parteipolitische Konvertit Sommer zu Frau Dr. Merkels Jause. Traditioneller “Schulterschluss” wird mit den Sozis praktiziert, als hätten nicht gerade die den übelsten Sozialabbau des vergangenen halben Jahrhunderts organisiert, diese gewissenlosen, geschichtsvergessenen Arbeiterverräter. DGB-Sommer und SPD-Gabriel, der erst jüngst wieder für die Beibehaltung der Rente mit 67 eintrat: Ein prachtvolles Spezialdemokraten-Paar, das passt zusammen. Man schaue sie an, unsere wohlgenährten Arbeiterführer: Berthold Huber: SPD. Michael Vassiliadis: SPD. Klaus Wiesehügel: SPD. Alexander Kirchner: SPD. Ulrich Thöne: SPD. Franz-Josef Möllenberg: SPD. Bernhard Witthaut: SPD. Frank Bsirske: Die Grünen.
Wahrlich eine illustre Herrenrunde. Mit Gehältern und selbstbehaltenen Aufsichtsratsbezügen von allemal mehr als 230 000 Euro pro Jahr und Nase: Nur so könne man “auf Augenhöhe” mit den hochbezahlten Managern der Arbeitgeberseite verhandeln, hat Herr Bsirske uns einst erklärt. Das Sein bestimmt nun mal das Bewusstsein. Wann bitten die Herren Peer Steinbrück zum Referat im Fortbildungsseminar?
Und wir Mitglieder? Wir freuen uns über eine Einladung zum gemütlich-weihnachtlichen Beisammensein mit Senioren. Wir werden bedacht mit Werbebroschüren für Reiseveranstaltungen (Gewerkschafter-Rabatt!). Rechtsschutz kriegen wir im Fall von Streitigkeiten mit dem Arbeitgeber. Eine Rote Rose am Internationalen Frauentag. Preisvorteile werden uns gewährt von Autovermietern und Finanzdienstleistern. Und ermäßigter Gruppentarif bei der Sterbeversicherung. Gewerkschaft als Eventmanager, Reiseveranstalter, Versicherer – Erbarmen. Kugelschreiber gibt´s bei der SPD.
Ich mag ’s nicht mehr mittragen..."
"Du müsstest Dich dann wohl noch entscheiden was Du nun wirklich meinst."
Ich möchte lieber nicht.
Habe mir jetzt nochmals die Debatte durchgelesen ab dem Zeitpunkt, als der BARTLEBY im Raum stand, im Kommentarraum, und angesichts der Wucht, mit der hier die Standpunkte festgezurrt werden, kommt mir mein Einwurf etwas deplaziert vor: Ich hatte mich einfach darüber gefreut, dass Du Bartleby ins Spiel gebracht hast. Und dieser Freude sofort nach Lesen des Kommentars Ausdruck gegeben.
Und dann weitergelesen und gemerkt, dass über die Bartleby-Novelle und die Figur noch einiges geschrieben wurde im Folgenden - deshalb mein Kommentar im Nachgang.
Habe mir die Melville-Geschichte dann nochmals vorgenommen und finde darin vieles, sogar eine frühe Kritik der "Arbeitnehmer-Käfighaltung" (Großraumbüro/Lichtverhältnisse/Wände, wie später in der Anstalt, The Tombs), über Depression, über die Wall Street, in der man mal gewesen sein und deren Akteure man mal in den einschlägigen Lokalen erlebt haben sollte (auch wenn seinerzeit alles tausendmal langsamer ablief), über die Geschichte des KOPIERENS, und so weiter und so fort, aber keine "Idee des Absoluten" oder eine "eifernde Mission".
"Die Zerstörung des Individuums durch die Gesellschaft"? Sicher ein Aspekt, aber einer der Tricks besteht ja heute darin, dass die Gesellschaft, die Konsenspolitik hier im Westen das INDIVIDUUM wie nichts sonst feiert → siehe → Fakten für Verbraucher. Nicht Bartleby, nicht Barnaby... hier käme z.B. Bourdieu ins Spiel.
"dass man strikt zwischen Individualismus und Individuum unterscheiden muss"
Ich ahne, was Du meinst, glaube dennoch, dass diese theoretische (und willkürliche?) Begriffsaufspaltung am eigentlichen (systemischen?) Kern vorbeiführt.
"Nach der Abschaffung des Privateigentums werden wir also den wahren, schönen, gesunden Individualismus haben. Niemand wird sein Leben damit vergeuden, dass er Dinge und die Symbole für Dinge anhäuft. Man wird leben. Zu leben ist die seltenste Sache von der Welt. Die meisten Leute existieren, das ist alles.“
Oscar Wilde
"Die amüsanteste Szene aus Monty Pythons Leben des Brian ist jene, in der die heilssuchenden Anhänger sich vor Brians Haustür versammeln. Sie halten ihn für den Messias und hoffen, er möge ihnen offenbaren, wie sie zu leben haben. Stattdessen ruft Brian jeden Einzelnen zum eigenständigen Denken auf, denn sie seien ja „alle Individuen“. Daraufhin stimmt das Volk mechanisch an: „Wir sind alle Individuen“. Nur ein einziger Individualist lässt ein zaghaftes „Ich nicht.“ verlauten, wird aber von der denkfaulen Meute rasch zum Schweigen gebracht."
https://www.novo-argumente.com/artikel/freiheit_und_autonomie_das_individuum_bringts
@ Stiller, @ iDog
Sehr schöne Zitate. Wilde formuliert das „Sein“ statt „Haben“, und den Unterschied von „Existieren“ und „Leben“. „Individualismus“ bedeutet, daß es eine Eigensinnigkeit gibt, ein „Eigen-Sein“, nicht bloß Anhäufung von Totem, das bloß durch einen Eigentumstitel zusammengehalten wird (man bemerke hier die falsche, ideologische Verwendung des Begriffs Eigentum, das ein völlig unpersönliches Verhältnis beschreibt). Man wird zu einem Subjekt, indem man Eigensinn entwickelt und sich Welt an-eignet. Das ist individuelle Identität, individuelles Leben.
Die Grundlage solcher Individualität ist die menschliche Gemeinschaft, ohne soziale Organisation kann sich kein Individualismus entwickeln. Und umgekehrt entwickelt sich Gesellschaft als Selbstorganisation der Individuen. Diese Dialektik gilt es zu begreifen. Dabei entsteht eine sekundäre Objektivität, ein gesellschaftliches Sein, das sich in Institutionen objektiviert, die wichtigste ist die Sprache, ohne diese gesellschaftliche Grundlage könnte sich kaum Individualität entfalten. Wir alle denken in unserer jeweiligen Sprache und organisieren uns so als Individuen.
Auch O‘Neill benennt das bürgerliche Mißverständnis: wir leben im Pseudoindividualismus, der in Wahrheit mehr ein Solipsismus ist. Die bürgerliche Welt ist eine flache Welt, in der die Individuen als Fettaugen auf dem Meer schwimmen, unverbunden, sich gegenseitig abstoßend, unterschieden nur durch ihre Größe. Hier ist das Individuum nicht durch Sinn, sondern durch Ausdehnung bestimmt.
Du weisst ja schon das ich Tlacuache bin, mal schauen wann ich hier auffliege, fuer Wolfram Heinrich tut es mir sehr leid, der hat hier Herzblut mit ca. 66 jahren gelassen... da sind mit mir und ihm ca. 22 000 Kommentare und ca. 300 - 400 Beitraege um die Ohren geflogen...
Gruss mein lieber Lethe, von dir habe ich damals sehr viel gelernt...
Auch heute noch !!!