Soziale Ungleichheit ist nicht naturgegeben

Vermögenssteuer Ein Aktionsbündnis verlangt, dass die Reichen für die Kosten der Coronakrise aufkommen. „Verdient“ haben sie diesen Reichtum ohnehin vielfach nicht
Ausgabe 38/2020
Neubau in Köln. Neid-Debatte oder Ungleichheit?
Neubau in Köln. Neid-Debatte oder Ungleichheit?

Foto: Westend61/Imago Images

Vermeintlich wissen wir über Arme alles: welche Chips sie essen, mit welchen Marken sie sich einkleiden, wie sie mit ihren Kindern umgehen. Über den anderen Pol der Klassengesellschaft hingegen wissen wir so gut wie nichts. Woher auch? Auf RTL 2 laufen nicht den ganzen Tag Doku-Soaps, in denen die Superreichen Einblicke in ihren Alltag gewähren – von ein paar Neu-, aber sicher nicht Superreichen wie den Geissens mal abgesehen. Die Reichen heiraten gern unter ihresgleichen, gehen in exklusive Clubs, wohnen in Gated Communitys. Kurzum: Diese Parallelgesellschaft besteht aus Integrationsunwilligen.

Um den Reichen die Rückkehr in die Gesamtgesellschaft zu erleichtern, ruft das bundesweite Bündnis „Wer hat, der gibt“ am 19. September zu Aktionen in mehreren Städten auf. In Hamburg soll in einem Villen-Viertel an der Außenalster demonstriert werden. Im Aufruf heißt es: „Millionär*innen und Milliardär*innen haben ihr Geld nicht ‚verdient‘, sondern sie haben sich angeeignet, was wir erarbeitet haben.“ Deshalb sollen die Reichen für die Coronakrise zahlen. Ganz realpolitisch fordert das Bündnis die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, eine effektive Besteuerung großer Erbschaften und mehr Geld für Krankenpfleger*innen, Erzieher*innen, Erntehelfer*innen oder Kassierer*innen.

Die Berliner Autorin Bini Adamczak sagte Anfang 2019 im Interview mit dem Online-Magazin kritisch-lesen.de: „Der Mut, nach oben zu treten, ist links. Nach unten treten, ist rechts.“ Richtig ist diese Aussage nicht, weil die da oben moralisch verkommene Wesen und die, die unten sind, qua ihres Status irgendwie sympathischer wären. Richtig ist Adamczaks Satz, weil der kleinste gemeinsame Nenner linker Politik die Gleichheit aller Menschen ist. Rechte Politik hingegen orientiert sich an der Ungleichheit: Neoliberale legitimieren sie, indem sie die Menschen in Leistungsträger und Leistungsempfänger einteilen. Völkische Nationalisten trennen zwischen einer angeblich zivilisierten Kultur (aka Rasse) auf der einen Seite und einer rückständigen und minderwertigen auf der anderen. Neofeudale zelebrieren den Unterschied zwischen Eigentümern und Schuldnern. Je nach Ideologie ist die Ungleichheit gottgemacht, naturgewollt oder Treiber für soziale Entwicklung. Aus der Perspektive der ökonomischen Gleichheit ist unsere Gesellschaft rechtsradikal: Wenige verfügen über das, was eine Mehrheit erarbeitet hat, und können dabei einen so großen Berg Money anhäufen, den sie nicht einmal in hundert Leben selbst verbrauchen könnten: Allein in Deutschland werden jährlich bis zu 400 Milliarden Euro vererbt. Jeff Bezos verdient in 16 Sekunden so viel Geld wie eine Krankenpflegerin im ganzen Jahr.

Diejenigen, die den Status quo beibehalten wollen (Reiche zum Beispiel), sind kreativ, um den Kampf für mehr Gleichheit zu verteufeln. Sie erfinden Begriffe wie Neid-Debatte, wenn Menschen es wagen, die Resultate des rechtsradikalen Wirtschaftssystems zu kritisieren. Sie sprechen mit Sorgenfalten auf der Stirn von einer drohenden Spaltung der Gesellschaft, wenn es um die real existierende zwischen Arm und Reich geht. Und sie sprechen von verkürzter, regressiver oder gar strukturell antisemitischer Kapitalismuskritik, wenn nicht ausschließlich Strukturen, sondern auch der Reichtum mancher Menschen thematisiert wird.

Bei Brecht heißt es: „Reicher Mann und armer Mann standen da und sah’n sich an. Und der Arme sagte bleich: Wär ich nicht arm, wärst Du nicht reich.“ Anders gesagt: Sich den Reichtum der Reichen überhaupt zu vergegenwärtigen, kann ein erster Schritt sein, den strukturellen Zusammenhang von Reichtum und Armut zu erkennen. Die Klassengesellschaft ist von Menschen gemacht.

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