Von Platon bis Elon Musk: Über die mythische Figur des „Genies“
Kolumne Der Wahnsinn soll ihnen innewohnen, darum haben es „Genies“ heute nicht leicht. Dennoch hält sich die Ideologie dahinter: Wer Außergewöhnliches schaffe, dürfe außergewöhnlich leben. Ein Eintrag aus dem „Lexikon der Leistungsgesellschaft“
Eines der frühen Genies: der griechische Philosoph Platon
Foto: Imago/Thea Photography
Sie will einfach nicht sterben: die Figur des Genies. Geboren im Übergang von Mittelalter zu Neuzeit, erlebte sie während der Romantik ihre Blütezeit, hat später die Moderne und selbst den ausgerufenen Tod des Autors überlebt und prägt unser Denken über den Zusammenhang von Menschen, Begabungen und Entwicklungen bis heute. Ein Genie schafft Neues, bricht die Regeln, verlässt sich vor allem auf sich selbst und sein Können.
Genies sind insbesondere in der Kunst anzutreffen: Gemäß der Genie-Ästhetik ist ein Kunstwerk eines, das sich nicht an etablierten Ordnungen, Regeln oder Moden orientiert, sondern eines, das vom einzelnen Ausnahmekönner geschaffen wird in seinem weit weg von der Welt gelegenen Atelier, wo er „sich“
sich“ wirken lässt. Das Genie ist ein schöpferisches Wesen. Es tritt damit an die Stelle, an der sich einst der liebe Gott befand, und ist damit eine säkulare Weiterführung der gewohnten Erzählung der Herrschenden: dass die Geschichte der Menschen nicht von den Menschen selbst gemacht wird.Von Platon bis PicassoDie Liste der Genies ist lang. Sie reicht von Platon und Aristoteles über Leonardo da Vinci, Johann Wolfgang von Goethe und Alexander von Humboldt bis zu Pablo Picasso. Die Liste ließe sich fortsetzen und bliebe doch strukturell gleich, denn die Figur des Genies ist weiß und männlich. Weibliche Genies sind kaum vorstellbar, auch deshalb ist das Genie schlecht gealtert, da das Stereotyp vom Manne, der alleinig in der Lage ist, Neues zu schaffen, ein wenig in Verruf geraten ist.Auch der dem Genie angeblich innewohnende Wahnsinn hat es schwer in der heutigen Welt. Obwohl es doch eigentlich zu den besonderen Soft Skills des Genies gehört, Grenzen zu sprengen, gelten Grenzüberschreitungen inzwischen als problematisch. Da geraten geniale Dirigenten in die Kritik, nur weil sie ein paar Leute systematisch erniedrigt und sie auch mal geschüttelt haben sollen, ingeniöse Intendanten dürfen nicht einmal mehr ihrem Sexismus freien Lauf lassen, Brüste anstarren und Frauen einschüchtern, genialische Filmproduzenten nicht mehr bereits am Vormittag besoffen ein komplettes Set tyrannisieren. Überall droht die Cancel Culture, das Wirken eines Genies einzuschränken. Das Genie darf sich nicht mehr völlig ungeniert benehmen.Diejenigen, die sich dauerhaft an der Seite eines Genies bewegen, sollten nicht nur auf dessen Wahnsinnspotenz achten, auch sonst ist das Leben in Nähe der Koryphäe ein hartes. Sie müssen Schritt halten, dürfen aber gleichzeitig nicht zur ernsten Konkurrenz werden: Wer es gar wagt, das Genie zu überholen, aus dem Außergewöhnlichen jemand Gewöhnliches zu machen, könnte schnell harter Gegenwind entgegenschlagen. Der beste Ort ist direkt hinter einem Genie: im Windschatten, in der stickigen Duftwolke des vorauslaufenden, nach Schweiß stinkenden Halbgottes.Das postmoderne GenieDie in die Jahre gekommene Figur des Genies versucht sich zu verjüngen: Nun sollte jede*r potenziell Genie werden können, egal wo er oder sie herkommt, welches Geschlecht es hat. Das postmoderne Genie erkennt im menschlichen Umgang durchaus Grenzen an, schlägt auch mal zurückhaltend die Beine übereinander, wo der Vorgänger breitbeinig seine Selbstgefälligkeit präsentierte. Auch wenn sich das Genie von heute möglichst divers und reflektiert zeigt, steht die Figur selbst nicht zur Disposition, da noch immer, vielleicht sogar mehr denn je das Herausstechen des Einzelnen aus der Masse der Gewöhnlichen als allgemeines Ziel gilt und immer noch der Mythos weit verbreitet ist, dass menschliche Einzelteile die Geschichte antreiben und nicht das gesellschaftliche Ganze.Besonders viele brillante Einzelwesen scheint es in den USA zu geben, etwa Jeff Bezos, Bill Gates, Peter Thiel und Elon Musk (mit Abstrichen, weil nicht mehr „woke“), Sam Altman und natürlich Steve Jobs. Wir wüssten es besser, wenn wir an die vielen Beschäftigten der Einzelkönner dächten, aber dank der Genie-Ideologie glauben wir gerne, wenn uns erzählt wird, das Genie kann alles alleine: Roboter bauen, zum Mond fliegen, die Unsterblichkeit erfinden.Für die Genies ist das Fortleben der Genie-Figur ein Segen, denn sie legitimiert die Position: Wer Außergewöhnliches schafft, darf eben auch außergewöhnlich leben. Wie Ideologie und Ästhetisierung des heroischen Individualismus in die Selbstdarstellung des Techsektors im Silicon Valley eingeflochten ist, hat der Literaturwissenschaftler Adrian Daub in seinem lesenswerten Buch Was das Valley denkt aufgezeigt. Selbst eine eigentlich recht unspektakulär aussehende Tätigkeit wie das Programmieren eines Interfaces kann wie eine Heldentat präsentiert werden, ebenso das schlichte Glück, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort in ein passendes Geschäftsmodell investiert zu haben, geschmeidig als Resultat außergewöhnlicher prophetischer Kräfte verkauft werden kann. Die unzähligen Glücksritter, die zurückgelassen oder zur Strecke gebracht werden mussten, können ihre Geschichten des Scheiterns nicht erzählen; ihnen will ohnehin niemand zuhören, es sei denn, sie eignen sich als Beispiele für verkannte Genies.Eine Art EndgerätefordismusJohannes Franzen, ebenfalls Literaturwissenschaftler, weist auf eine weitere, für die Silicon-Valley-Genies dieser Tage praktische Funktion des Geniemythos hin: Der Konsum der von Genies geschaffenen Produkte lasse auch die Konsument*innen erstrahlen: „Man kauft mit dem iPhone eben nicht nur ein neues Handy, sondern man partizipiert an den Taten eines Genies. Dadurch wird man als Rezipient aufgewertet, am Ende vielleicht sogar selbst ein bisschen genial.“ Das perfekte Zusammenspiel von Produktion und Konsumtion, eine Art Endgerätefordismus.Die hier formulierte Kritik an der Geniefigur soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es durchaus Menschen gibt, die in der Lage sind – oder besser: in die Lage gebracht werden –, über das Bestehende hinauszuweisen. Sie tun dies aber nicht in einer stillen Kammer als quasi überirdische Schöpfer, sondern immer unter konkreten gesellschaftlichen Bedingungen auf Grundlage von technologischer Entwicklung, Arbeitsteilung und Kooperation.Was Peter Hacks schriebWer die Dialektik von Genie und Gesellschaft begreift, ist in der Lage, sich nicht von der Figur des Genies blenden zu lassen. „Genie“, schreibt Peter Hacks, „ist das Vermögen, den eigenen Weltzustand als fremden zu begreifen und mithin die Tatsachen, die von der Menge für allgemein hingenommen werden, als Stellen innerhalb eines Feldes von Möglichkeiten zu orten“, die Tatsachen mit voller Hand und nicht nur an den paar Henkeln zu packen, so Hacks, immer das eine Ziel vor Augen: „die äußerste Verwirklichung der äußersten Möglichkeit.“ Die wahrhaftigen Genies sind von dieser Welt.Placeholder authorbio-1