Der 26. September könnte ein historisches Datum werden: An diesem Tag stimmen Wahlberechtigte in Berlin über die Vergesellschaftung großer Immobilienkonzerne ab. Sollte es dazu kommen, wäre das ein starkes Signal nach Jahrzehnten des großen Ausverkaufs, des Privatisierungswahns, der neoliberalen Stadtpolitik. Es wäre auch ein Sieg von mehreren Tausend Aktiven, die monatelang, einige von ihnen jahrelang, Konzepte geschrieben, ihre Nachbarschaft organisiert und Hunderttausende Unterschriften gesammelt haben.
Doch wenige Wochen vor der Wahl beschäftigt die Kampagne „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ ein interner Konflikt – im Zuge des Vorwurfs einer sexuellen Nötigung: Ein 69-jähriger Aktivist soll eine 29-jährige Mitstreiterin am Arm zu sich gezogen und ihre Hand gezielt zu seinem erigierten Glied geführt haben. Der Beschuldigte weist die Vorwürfe zurück, sie seien „frei erfunden“. Bei dem Aktivisten handelt es sich um Michael Prütz. Dieser hatte die Kampagne einst mitgegründet, war eines ihrer Gesichter, sein Makler-Büro bildete als Kampagnenbüro für viele den Dreh- und Angelpunkt. Die Frau hat Strafanzeige bei der Polizei gestellt, der Beschuldigte wiederum Unterlassung gefordert und die Frau mittlerweile wegen Verleumdung und Beleidigung angezeigt. So weit die Sachlage. Wer mit diversen Personen der Kampagne spricht – viele wollen anonym bleiben –, erfährt schnell, dass es bei dem Konflikt um mehr als um den schwerwiegenden Vorwurf der Nötigung geht.
Prütz und seine Unterstützer kritisieren vor allem den internen Umgang mit dem Vorfall. Er sei ohne Anhörung aufgefordert worden, sich aus der Kampagne zurückzuziehen. Ein offizielles Gespräch vonseiten der Kampagnen-Leitung, des sogenannten Ko-Kreises, habe es nicht gegeben. Vielmehr sei versucht worden, den Vorfall unter den Teppich zu kehren. Ein Mitglied des Ko-Kreises, das anonym bleiben möchte, wirft der Mehrheit des Gremiums außerdem vor, alle Kompromissversuche ausgeschlagen zu haben.
Feindbild Identitätspolitik
Andere aus dem Ko-Kreis haben eine andere Sicht auf die Dinge, so etwa Constanze Kehler: „Natürlich müssen wir als Initiative es ernst nehmen, wenn eines unserer Mitglieder ein anderes wegen eines sexuellen Übergriffs anzeigt. Wir haben unter Beratung externer Stellen ein Verfahren entwickelt und demokratisch ausgehandelt.“ Jonas Becker sitzt für die Kiezteams, die Basisgruppen der Kampagne, im Ko-Kreis und hat den Verlauf des Verfahrens ebenfalls eng begleitet. Mehrere Wochen habe es immer wieder Sondersitzungen gegeben, teilweise mehrmals die Woche.
Die Kampagne „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ ist 2018 gestartet, um private Immobiliengesellschaften zu vergesellschaften, die in Berlin mehr als 3.000 Wohnungen besitzen. Grundlage der Idee eines Volksentscheids ist ein weitgehend unbekannter Artikel des Grundgesetzes, der noch nie angewandt wurde: Artikel 15, wonach Grund und Boden „zum Zweck der Vergesellschaftung“ in Gemeineigentum überführt werden kann. Im Mai hatte die Kampagne einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der aber unabhängig vom Volksbegehren ist. Bei einem gewonnenen Volksentscheid am 26. September würden die Berliner:innen den Senat zur Enteignung auffordern, die konkrete Ausgestaltung läge in den Händen der kommenden Regierung. Die Wahl könnte eng werden: Laut Berlintrend befürworten 47 Prozent der Stimmberechtigten die Enteignung großer Wohnungsunternehmen, 43 Prozent lehnen sie ab.
Nach diversen Änderungsanträgen ist ein achtseitiger Verfahrensvorschlag herausgekommen, wie mit Vorwürfen sexualisierter Übergriffe umzugehen sei. In dem internen Papier, das dem Freitag anonym zugespielt wurde, wird sich „im Sinne der parteilichen Solidarität auf die Seite der betroffenen Person“ gestellt. Es soll eine Kommission eingerichtet werden, bei der es um die Analyse des Vorfalls geht, nicht um Wahrheitsfindung. Arbeitsgrundlage wäre die Schilderung der betroffenen Person. Allerdings habe das Verfahren das Ziel, „konstruktive, transformative Lernprozesse innerhalb unserer Organisation anzustoßen“. Nach langer Debatte haben dem Verfahrensvorschlag 73 Prozent zugestimmt.
In einer Mail an den Kampagnenverteiler lehnt Prütz dieses Verfahren scharf ab: Es falle durch die implizierte Vorverurteilung hinter Werte und Normen der bürgerlichen Aufklärung zurück und lande im 15. Jahrhundert, „wo Fürsten, Adlige und Gutsherren über Recht und Gesetz befunden haben“. Die Mail endet mit dem Verweis, dass zu gegebener Zeit Öffentlichkeit, soziale Bewegungen und Gewerkschaften über „dieses sektenhafte und dschihadistische Verhalten“ informiert werden müssten. Auch aus Prütz’ Umfeld stößt der Verfahrensvorschlag auf scharfe Ablehnung, was Aktive wie Jonas Becker enttäuscht. Es sei irritierend, wenn das von großer Mehrheit beschlossene Verfahren, das nach einem sehr langen und harten Prozess basisdemokratisch entschieden wurde, jetzt nicht akzeptiert wird. „Wir in den Kiezteams bündeln gerade alle Kräfte für den Wahlkampf. Auf den sollten wir uns jetzt fokussieren“, sagt Becker.
Aber nicht nur der Wahlkampf wird die Kampagne wenige Wochen vor der Wahl beschäftigten – das wurde klar, als ein langer Text von Rainer Balcerowiak auf den Nachdenkseiten erschien. Dass der Frau erst einmal geglaubt wird, erinnert Balcerowiak „eher an die spanische Inquisition, das späte Jakobinertum nach der französischen Revolution und Schauprozesse in der Stalin-Ära als an die Verfasstheit von großen demokratischen Bündnissen“. Ähnliche Beiträge waren vorher bereits bei Telepolis und RT zu lesen. Spätestens hier wird deutlich, dass bei dem Konflikt auch das Feindbild der Identitätspolitik eine Rolle spielt: Wer für das Verfahren ist oder sich mit der Betroffenen solidarisiert, wird der woken Linken zugerechnet. Balcerowiak fordert gar, die Unterstützung oder Zusammenarbeit mit der Kampagne zu beenden.
Es kommt noch eine weitere Ebene hinzu: Mehrere Frauen, die anonym bleiben wollen, werfen Prütz vor, sich ihnen gegenüber distanzlos verhalten zu haben. Eine Frau erzählt von einer Begegnung vor ein paar Monaten: Beide kannten sich schon ein paar Wochen, als er die Anfang 30-Jährige fragte, ob sie mal nach Büroschluss zu zweit einen Wein trinken würden. Für die Aktivistin ging das Angebot über das normale Miteinander in einer politischen Kampagne hinaus. Sie habe ausweichend reagiert, Prütz aber mehrmals nachgefragt. Nach dieser Erfahrung sei die Aktivistin nicht mehr, wie sonst üblich, regelmäßig im Kampagnenbüro gewesen, um dort Materialien abzuholen. Sie habe unangenehme Situationen vermeiden wollen, sei sich unsicher gewesen, ob es sich negativ für ihre Stellung in der Kampagne auswirken könnte, wenn sie ihn, immerhin eine zentrale Person der Kampagne, vor den Kopf stößt. Fast deckungsgleich klingt die Beschreibung einer weiteren Aktivistin, die Prütz zum privaten Weintrinken eingeladen haben soll. Prütz entgegnet: Er sei kein Typ, der speziell hinter jungen Frauen her sei. Er habe zwar immer mal wieder Aktivistinnen aus der Kampagne zum Wein eingeladen, aber ohne Hintergedanken. Gerade in Corona-Zeiten sei es normal gewesen, dass Frauen wie Männer abends mal auf einen Wein vorbeigekommen seien.
Von Spaltung keine Rede
Einladungen zum Wein, Flirtversuche oder Anzüglichkeiten sind juristisch gesehen keine Straftaten, aber sie können Grenzen überschreiten. Prütz schrieb Mitte Juli an den Verteiler der Kampagne, schilderte die Erkenntnis, dass er seine „joviale und charmante Art“ reduzieren müsse und er damit aus der Zeit gefallen zu sein scheint.
Im Streit der Kampagne spiegelt sich ein Konflikt, der keineswegs exklusiv für linke Zusammenhänge ist: Was ist ein akzeptabler Flirt? Wo verlaufen in einer politischen Organisation die Grenzen der professionellen Zusammenarbeit, wo fängt das Private an? Wo ist die Grenze zwischen einem charmant-ungefährlichen älteren Herren und einem grenzüberschreitend-unangenehmen Mann? Die Kriterien sind nur schwer objektiv zu bemessen, aber klar ist: Was einst noch akzeptabel erschien oder vielleicht auch zähneknirschend akzeptiert wurde, ist es heute nicht mehr.
Der Konflikt kommt zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt, in der heißen Phase des Wahlkampfs, wo jede Stimme zählt. Bereits jetzt deutet sich an, dass die Gegner der Enteignung versuchen könnten, den Konflikt auszuschlachten. Den vorläufigen Höhepunkt bildete Ende August ein Artikel im Berliner Tagesspiegel, der den Konflikt beschreibt und in dem Prütz ausführlich zu Wort kommt. Springers Welt nahm den Bericht dankend auf und titelte „Mutmaßliches Sexualdelikt spaltet ‚Deutsche Wohnen enteignen‘“.
Jonas Becker von den Kiezteams nimmt an der Basis etwas anderes wahr: Zwar gebe es eine gewisse Verunsicherung, aber von einer Spaltung könne keine Rede sein. Zu tun gibt es genug: Haustürgespräche, eine bundesweite Mietendemo in Berlin am 11. September, ein Aktionstag für Enteignungen einen Tag später. Zudem soll der 26. September nicht das Ende der Kampagne sein. Franziska Giffey, die für die SPD das Amt der Regierenden Bürgermeisterin erringen will, hat sich klar positioniert: Das Thema Enteignung sei für sie eine rote Linie bei der Koalitionsbildung. Auch die Grünen sind nicht gerade enthusiastisch, was die Kampagne angeht. Selbst wenn die Abstimmung also gewonnen werden sollte, wird es starken Druck von unten brauchen, um die Vergesellschaftung durchzusetzen.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.