Amazon 1.900 Beschäftigte aus 70 Ländern: Für Verdi war der hochmoderne Amazon-Standort Winsen in Niedersachsen bisher schwieriges Terrain. Jetzt wagten Arbeiterinnen den ersten Streik. Ein Ortsbesuch
Eigentlich müsste Entisar Mennerich gleich mit der Frühschicht beginnen. Doch heute wird sie nicht in die riesige Lagerhalle gehen, wird sich nicht einchecken und sich nicht darum kümmern, dass wie jeden Tag Zehntausende Pakete das Amazon-Lager verlassen. Die 47-Jährige streift sich eine gelbe Weste mit Verdi-Logo über und baut mit einer Handvoll Kollegen zwei rote Pavillons und drei Tische auf. Darauf platziert sie Flyer, belegte Brötchen und Listen. Es sind Streiklisten. Möglichst viele sollen sich in diese eintragen.
Mennerich hat hier, in Winsen (Luhe) in Niedersachsen, angefangen zu arbeiten, da war der Standort gerade eröffnet worden. Fünf Jahre ist das nun her. „Ich habe immer wieder mitbekommen, dass an einigen anderen Standorten ge
ndorten gestreikt wurde, und habe mich immer gefragt, wann es bei uns endlich so weit ist.“ Die Wut auf Amazon sei unter den Beschäftigten zwar groß. Aber es gebe viele, die gar nicht wüssten, dass sie streiken dürfen. Es gehe das Gerücht um, Streikenden drohten Abmahnungen. An diesem 14. September soll es so weit sein. „Hoffentlich bleiben wir nicht die Einzigen, die streiken“, sagt sie und blickt auf die anderen drei Kollegen, die bis jetzt dabei sind. Für die Gewerkschaft war Winsen bisher schwieriges Terrain.Das Logistikzentrum 30 Kilometer südlich von Hamburg gilt als einer der modernsten Amazon-Standorte in Deutschland. Hier werden Produkte zwischengelagert, verpackt und auf Lastwagen zu den kleineren Sortier- und Verteilzentren transportiert, um dann an die Haustüren gebracht zu werden. Winsen, direkt an der Autobahn gelegen, ist für den Amazon-Konzern ein wichtiges Drehkreuz in Norddeutschland.Nur drei Prozent mehr LohnKurz nach fünf Uhr trifft der erste Bus mit mehreren Dutzend Beschäftigten ein. Entisar Mennerich greift nach einem Stapel Flyer und läuft in Richtung Bushaltestelle. Viele bleiben kurz stehen. Fast alle gehen aber dann doch in die Halle.Zentrale Verdi-Forderung ist die nach einem Tarifvertrag des Einzelhandels. Heute geht es aber auch um den Lohn – denn Amazon möchte den Beschäftigten in Winsen nur drei Prozent mehr zahlen. Zu wenig wegen der Inflation, meint Mennerich. Die zweifache Mutter sorgt sich, angesichts steigender Kosten für Lebensmittel, Heizung und Benzin: „Alles ist teurer geworden, wir brauchen deutlich mehr Geld, um unseren Lebensstandard überhaupt halten zu können.“ Bisher sei es möglich gewesen, vom Amazon-Gehalt einigermaßen zu leben. Doch wegen der Teuerungen gehe es mehr und mehr ums Überleben. Drei Prozent mehr Lohn, das entspricht bei einer Inflation von acht Prozent faktisch einer Lohnkürzung.Mennerich läuft wieder zur Bushaltestelle, wo gerade ein weiterer Bus mit Beschäftigten der Frühschicht ankommt. Die Verdi-Vertrauensfrau sucht in ihrem Stapel nach einem Flugblatt in englischer Sprache, um zwei Kollegen über die Forderungen des Streiks zu informieren. Für fast alle, die bei Amazon in Winsen arbeiten, ist Deutsch eine Fremdsprache. Dem Unternehmen zufolge kommen die 1.900 Beschäftigten hier aus 70 Nationen. Entisar Mennerich ist wie ihre Mutter und ihre Geschwister aus Eritrea geflüchtet, Anfang der 1990er Jahre, als Teenager.Die beiden angesprochenen Kollegen bleiben tatsächlich draußen, einer schnappt sich eine Verdi-Fahne und begrüßt die, die schon in Streik getreten sind, per Handschlag. Er streift sich eine gelbe Verdi-Weste über seine Jacke.Gründe für den Streik haben sie vieleIn der Morgendämmerung schließen sich immer mehr dem Streik an. Einige, die zunächst in die Halle gegangen waren, kommen wieder heraus. Zu Beginn der Frühschicht stehen vor dem Werk knapp 100 Menschen. Aus der Spätschicht werden sich später noch ein paar mehr beteiligen. Insgesamt 200 sollen es laut Verdi letztlich gewesen sein.Diese Beteiligung ist alles andere als selbstverständlich, war der Standort in Winsen doch nicht gerade ein Vorreiter des Arbeitskampfes bei Amazon in Deutschland. Bisher mangelte es an organisiertem Widerstand seitens der Beschäftigten, an aufsehenerregenden Skandalen hingegen nicht: Kurz nach der Eröffnung des Standorts schleuste sich ein NDR-Reporter ein und deckte auf, wie intensiv Amazon die Beschäftigten mit Kameras überwacht. Dann machte Winsen wegen der durch Greenpeace öffentlich gewordenen Vernichtung von Neuwaren Schlagzeilen. Während der Corona-Pandemie geriet das Logistikzentrum dann gleich mehrfach in den Fokus.Zu Beginn der Pandemie wurde der Standort aufgrund diverser Corona-Infektionen offiziell zum Hotspot erklärt. Ein Jahr später spielten Beschäftigte dem ARD-Magazin Panorama einen Aushang der Geschäftsleitung zu: Das Tragen von FFP2-Masken sei untersagt.Dass nach regelmäßigen Streiks an Standorten wie Bad Hersfeld, Leipzig und Koblenz Winsen (Luhe) nun endlich nachzieht, habe vor allem zwei Gründe, sagt Entisar Mennerich. Der erste: Wut. „Es sind so viele Baustellen.“ Das Arbeitsklima und die Einschüchterungen, die Arbeitshetze und der Gesundheitsschutz. „Viele hier sind kaputt, kaputt vom Lärm, von der Schlagzahl.“ Wütend auf Amazon seien hier viele schon lange gewesen. „Aber jetzt, da Amazon nur drei Prozent mehr zahlen möchte, ist bei vielen das Fass übergelaufen.“Mehrheit im BetriebsratZur Wut kommt Mut. Der ist hier stetig gewachsen. In Winsen gibt es zwar seit 2017 einen Betriebsrat. Der habe in den vergangenen Jahren aber vor allem die Interessen der Geschäftsleitung vertreten, sagt Hedi Tounsi, der gemeinsam mit Entisar Mennerich den Streik vorbereitet hat. Lange Zeit sei es schwierig gewesen, sich offen zu Verdi zu bekennen, so der 32-Jährige, der seit fünf Jahren selbst im Betriebsrat sitzt. Er war einer der wenigen sichtbar auftretenden Verdi-Vertrauensleute. Bei den letzten Betriebsratswahlen im Mai eroberten gewerkschaftsnahe Listen dann die Mehrheit – die meisten Stimmen erhielt Tounsis Liste. Der gebürtige Tunesier hat einen offensiven Wahlkampf gemacht, bekam dabei Unterstützung von Verdi und von einer Handvoll klassenpolitisch orientierter Aktivisten aus Hamburg, die ihn beim Flugblätterverteilen unterstützten.Entisar Mennerich und Hedi Tounsi kennen sich seit Jahren, in der Anfangszeit hatte Tounsi mehr mit Mennerichs Mutter zu tun, die 2017 auch bei Amazon gearbeitet hat. Wie bei vielen, die sich nach der Öffnung des Standorts gewerkschaftlich zu engagieren begannen, wurde ihr Vertrag nicht verlängert. Die Tochter blieb, obwohl sie eigentlich schnell wieder wegwollte. Der Arbeitsdruck, die immer weiter steigenden Anforderungen im Alltag und der mangelnde Respekt hätten sie bereits früh gestört. Aber von Anfang an hatte sie viele ihrer Kolleginnen und Kollegen ins Herz geschlossen. „Trotz der harten Arbeitsbedingungen sind viele füreinander da, helfen sich, wo es geht.“ So sind über Jahre hinweg Netzwerke und Freundschaften entstanden, die sich nun auszahlen.Gewerkschaftssekretär Nonni Morisse ist an diesem Morgen vor allem mit Mitgliedsanträgen beschäftigt. Am Ende des Streiktags hat sich Verdi zufolge die Mitgliederzahl in Winsen verdoppelt. Für Morisse nicht nur ein gutes Zeichen für die Beschäftigten vor Ort. „Amazon gibt in der Arbeitswelt den Takt vor, wenn es um Arbeitsabläufe, Arbeitsdruck und Überwachung geht.“ Die Beschäftigten hier zu unterstützen, bedeute auch, dagegen zu kämpfen, dass sich die Arbeitsbedingungen, die Amazon prägt, langfristig überall durchsetzen.Die Beschäftigten vernetzen sich internationalEine wichtige Aufgabe von Verdi ist die Vernetzung der Beschäftigten zwischen den verschiedenen Standorten. Das jüngste bundesweite Treffen fand wenige Tage vor dem Streik in Kassel statt. Dort tauschten sich Beschäftigte von 14 Standorten aus. In Kassel kam auch die Idee für den Streik auf. Neben Winsen wurde Mitte September auch an Standorten in Bad Hersfeld, Dortmund, Werne und Koblenz gestreikt.Auch Entisar Mennerich war beim Treffen in Kassel dabei. Es war ihr erstes bundesweites Treffen. „Es war super, Kollegen und Kolleginnen von anderen Standorten kennenzulernen, die alle an einem Strang ziehen.“ Der Vernetzung ist es zu verdanken, dass die Unterschiede, die Amazon zwischen den einzelnen Standorten macht, sichtbar werden. Während in Winsen die Löhne nur um drei Prozent erhöht werden, sind es etwa in Bad Hersfeld 7,4 Prozent. Auf die Nachfrage hin, wie solch große Unterschiede zu erklären sind, äußerte sich der Amazon-Konzern nicht.Derweil endet die Vernetzung der Beschäftigten nicht an den Ländergrenzen. Seit einigen Jahren organisieren sie sich international, was angesichts der hochflexiblen globalen Abläufe aus einer Notwendigkeit heraus geboren ist: Selbst wenn in Deutschland alle großen Logistikzentren gleichzeitig bestreikt werden würden, könnte Amazon mindestens einen Teil der Pakete über im Ausland liegende Standorte nach Deutschland liefern. Auch für nationale Arbeitskämpfe braucht es also eine internationale Abstimmung und Organisierung entlang der gesamten Produktionskette. Darum hat sich bereits vor einigen Jahren die Initiative Amazon Workers International gegründet. Regelmäßig treffen sich aktive Beschäftigte etwa aus Polen, Deutschland und Frankreich. Hedi Tounsi hat schon an solchen Treffen teilgenommen, Entisar Mennerich möchte beim nächsten Treffen in Polen Ende September dabei sein.Am Ende des Tages wird Amazon behaupten, der Streik habe keine Auswirkungen auf den Betrieb gehabt. Doch noch während der Frühschicht schicken Kolleginnen und Kollegen aus der Lagerhalle Nachrichten an Mennerich: „Sie schreiben, dass das Arbeitsvolumen an diesem Tag um 20 Prozent verringert wurde.“ Sie lächelt. „Das Schweigen ist gebrochen.“
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