Hier in Kesselstadt

Hanau Sechs Monate nach dem Terroranschlag fühlen die Hinterbliebenen vor allem Wut über Ungleichheit und Rassismus in ihrer Stadt
Ausgabe 35/2020

Wer die Spaltung der Gesellschaft verstehen möchte, sollte nach Hanau-Kesselstadt fahren. Wer die Wut der Betroffenen des rassistischen Terroranschlags erfahren möchte, sollte dort mit Jaweid Gholam sprechen. Der 27-Jährige sitzt auf einer Mauer an einem kleinen Platz. Er zieht an seiner Zigarette und blickt auf den Eingang des Jugendzentrums in Kesselstadt. Hier hat er seine Kindheit und Jugend verbracht. Und hier traf er sich am 19. Februar mit seinem Freund Ferhat Unvar. Beide wollten am Abend noch kurz in die Arena Bar gehen, um die zweite Halbzeit des Champions-League-Spiels zwischen Tottenham und Leipzig zu schauen. Jugendzentrum und Arena Bar trennen keine zwei Minuten Fußweg, dazwischen steht ein 14-stöckiges Hochhaus, in dem Gholam mit seinen Eltern und seinen Geschwistern lebt.

Die beiden gingen gerade los, als Gholams Smartphone klingelte. Einer seiner Brüder fragte, ob sie das Spiel zu Hause schauen wollen, er hatte eine Shisha vorbereitet. Gholam verabschiedete sich daraufhin von seinem Freund. Der Anruf rettete ihm das Leben.

Ferhat Unvar sagte dann, er wolle kurz alleine vorbeischauen, vorher noch in den Kiosk nebenan gehen. Dann war er tot. Ermordet, genau so wie Sedat Gürbüz, Fatih Saraçoğlu und Kaloyan Velkov, die der Täter Tobias R. am Heumarkt in der Innenstadt erschoss – und genauso wie Gökhan Gültekin, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović und Vili Viorel Păun, die dann in Kesselstadt starben. Anschließend tötete der Mörder seine Mutter und sich selbst – in seinem Elternhaus.

„Dort wohnen die Deutschen“

Zwischen dem Reihenhaus und dem Tatort in Kesselstadt liegen 300 Meter Luftlinie. Dazwischen befindet sich eine kleine Geschäftspassage. Dort, am Kurt-Schumacher-Platz, schlürfen an einem Freitagnachmittag im August ein paar Kinder Erdbeer-Slushies, um sich bei mehr als 30 Grad im Schatten abzukühlen. Ein paar Meter entfernt kämpfen drei Jugendliche auf einer Bank mit herumschwirrenden Wespen. Eine ältere Frau mit weißen Haaren schleppt sich mit ihrem wackligen Rollator in Richtung Supermarkt. Vor dem Döner-Imbiss sitzen drei Männer, rauchen, lachen, unterhalten sich. Einer von ihnen trägt eines der weißen Shirts in Gedenken an die am 19. Februar Ermordeten. Plötzlich ruft er in Richtung der älteren Frau. „Ihre Maske. Sie haben Ihre Maske verloren.“ Sie hebt sie auf und bedankt sich.

Viele hier müssen jeden Cent zweimal umdrehen, bekommen Hartz IV, auch weil das Geld aus schlecht bezahlter Lohnarbeit nicht reicht, um über die Runden zu kommen. Anders sieht die Situation bei den meisten Bewohnern der Einfamilien- und Reihenhäuser aus, sagt Gholam, zeigt auf eines dieser Häuser mit Kieselgarten und Mercedes vor der Tür. „Dort wohnen die Gehobenen, vor allem Deutsche.“

Letztens hat Gholam bei einer Party eine Frau kennengelernt. Beide waren sich sympathisch, haben Nummern getauscht, sich Nachrichten geschrieben. Irgendwann stellte sich heraus, dass sie auch in Kesselstadt aufwuchs – sehr zu seiner Überraschung, eigentlich kenne er hier alle zumindest vom Sehen. Gut 10.000 Menschen leben hier, aber trotzdem fühlt es sich wie ein Dorf an, rund um den Kurt-Schumacher-Platz. Wie kann es sein, dass Jaweid Gholam die Frau vorher nie aufgefallen ist? „Sie hing nie da ab, wo ich war.“ Also da, wo die Hochhäuser stehen, wo die Döner- und Gemüseläden sind, wo die Arena Bar ist. Sie wuchs dort auf, wo die Einfamilienhäuser stehen. Zwischen Hochhaus- und der Einfamilienhaussiedlung liegt nicht viel mehr als das Jugendzentrum – und doch sind es abgeschlossene Welten, getrennt von einer unsichtbaren Mauer.

Im Jugendzentrum kümmert sich Antje Heigl um den Wasserbomben-Nachschub für ein paar Jugendliche. Seit 1994 arbeitet sie hier als Sozialarbeiterin und als Boxtrainerin. Am 19. Februar hatte sie gerade zugemacht, als kurz danach die Schüsse fielen.

Hier geboren, hier gestorben

Einige der Ermordeten waren über Jahre hinweg Stammgäste hier. „Sie waren gerade dabei, sich vom Jugendzentrum zu lösen“, sagt Heigl. Sie hätten sich alle gut entwickelt, haben es irgendwie geschafft, die Steine, die ihnen im Weg lagen, zu umgehen oder wegzuräumen, hatten Jobs gefunden, sind Vorbilder für die nächste Generation geworden. „Es freut mich als Sozialarbeiterin natürlich, wenn so etwas gelingt.“ Dann hört Heigl auf zu sprechen, blickt auf den Boden des Box-Kellers, ihr Lächeln verschwindet.

Die Steine im Weg der Jugendlichen: Ferhat Unvar stieß auf solche vor allem in der Schule, erinnert sich seine Mutter Serpil Temiz Unvar. Sie habe ihm immer gesagt, als Kurde habe er nicht die gleichen Chancen wie ein deutsches Kind, deshalb müsse er noch fleißiger sein. Er las viel und gerne, Gorki und Tolstoi zum Beispiel, aber in der Schule gab es immer Ärger mit Lehrern. Trotzdem ist er seinen Weg gegangen: Zwei Wochen vor dem Anschlag hatte er seine Ausbildung zum Heizungsinstallateur abgeschlossen.

Es hätte auch anders kommen können. Deshalb kämpft Serpil Temiz Unvar nach dem Tod ihres Sohnes nicht nur gegen das Vergessen und gegen den Schmerz, sondern auch gegen Unterdrückung und Diskriminierung. „Wir brauchen nicht nur offiziell gleiche Rechte, sondern auch in unseren Köpfen und in unseren Herzen.“

Hätte der Täter nicht den Namen Tobias gehabt, sondern Ferhat, wäre es vielleicht nicht so weit gekommen, sagt sie, während sie das Papiertaschentuch mit ihren Händen in kleine Stücke reißt. Der Täter hatte Wochen vor der Tat sein Manifest im Internet veröffentlicht. Wären die Behörden aktiv geworden, wären die Zeilen nicht von einem weißen Deutschen gekommen? Ein Tobias aus der Reihenhaussiedlung – der wird doch niemandem etwas tun.

Die Jungs aus den Hochhäusern haben ständig Probleme mit der Polizei, sagt Jaweid Gholam. Er auch – oder besser gesagt: Die Polizei hat offenbar ein Problem mit ihm. Er erzählt, dass er allein in diesem Jahr bei anlasslosen Kontrollen sechs Mal angehalten worden war, immer habe er eine Urinprobe abgeben müssen. Ein Jaweid, dessen Eltern aus Afghanistan kommen, der Moslem ist und mit seinen 13 Geschwistern in einem 14-stöckigen Hochhaus lebt, das Klein-Kabul genannt wird, der wird schon was getan haben.

Das Feindbild funktioniert nicht nur bei der Polizei oder bei Rechtsterroristen. Die junge Frau, die Gholam letztens kennengelernt hatte, schrieb ihm, warum sie nie bei den Hochhäusern war: Ihre Eltern hatten es ihr verboten. Sie war auf einer Schule, auf der fast nur Deutsche gewesen seien. Gholam saß in der Gesamtschule mit 30 anderen Migranten in einer Klasse.

„Wie soll jemand, der die Ungleichheit in seiner Kindheit und Jugend, in der Schule erlebt hat, glauben, dass es im Erwachsenenleben, im Berufsleben anders sein sollte?“, fragt Gholam, die Ellbogen auf seinen Knien abgestützt und mit seinen Händen gestikulierend, als wolle der die unsichtbare Mauer mit den Händen packen.

Je länger Gholam redet, desto mehr Beispiele für die systematische Spaltung der Gesellschaft fallen ihm ein. Der Rassismus entscheidet mit darüber, auf welcher Seite du im Stadtteil lebst, auf welche Schule du gehst, mit wem die Kinder spielen dürfen – und welche Opfer ein Täter sich aussucht.

Die, die unten gehalten werden – die migrantisch geprägte Arbeiterklasse –, haben sich um die Hochhäuser von Kesselstadt einen Rückzugsort geschaffen. „Wir haben uns hier sicher gefühlt“, sagt Serpil Temiz Unvar. Wenn Ferhat als Kind oder Jugendlicher in Kesselstadt unterwegs war, hatte sie sich nie Sorgen gemacht. Entweder war er im Jugendzentrum, auf dem Sportplatz oder bei Freunden. Ferhat hatte immer die Wohnungsschlüssel verloren, weshalb sie ihm irgendwann keine neuen Schlüssel mehr gegeben habe. Wenn er abends noch unterwegs war, hatte sie häufig einfach die Tür offen gelassen, damit er reinkommen kann. Kesselstadt bedeutete Sicherheit – und zu Hause sein. Ferhat habe sein ganzes Leben in Kesselstadt gelebt. „In Kesselstadt geboren, in Kesselstadt gestorben“, sagt sie.

Heute ist es für Serpil Temiz Unvar furchtbar, in Kesselstadt zu wohnen. Sie wohnt in Sichtweite vom Elternhaus des Mannes, der ihren Sohn ermordet hat. Auf der anderen Seite befindet sich wenige Meter entfernt der Tatort.

Auch für Jaweid Gholam sind die Orte in Kesselstadt nun anders besetzt: Seit Monaten war er nicht mehr im Supermarkt direkt neben dem Tatort. Mit der Initiative 19. Februar, die mit Angehörigen, Überlebenden und Unterstützer*innen einen Laden am Heumarkt in der Innenstadt eröffnet hat, gibt es einen Ort für die Trauer, auch für die Wut. Doch die Wut richtet sich längst nicht nur gegen den Täter und gegen die Behörden, denen viele eine Mitschuld an der Tat geben. Die Wut richtet sich gegen viel mehr, gegen die Grundlage der Tat, gegen Rassismus, gegen die Ungleichheit.

Seine Freunde und er haben alle die gleichen Ziele, sagt Jaweid Gholam, der als Elektriker arbeitet. Sie alle wollen einen guten Job, ein bisschen Wohlstand, eine Familie gründen. Es ist der bescheidene Traum des sozialen Aufstiegs. Aber in der alten Industriestadt Hanau, vor allem hier um den Kurt-Schumacher-Platz herum in Kesselstadt, geht dieser Traum für viele eben nicht in Erfüllung. Für die Arbeiterklasse im Allgemeinen nicht, für die migrantische im Besonderen noch viel weniger.

„Aber trotzdem geben wir uns zufrieden mit dem, was wir haben“, sagt Gholam. „Wir arbeiten in Kiosks, in Bars, versuchen klarzukommen und finden uns irgendwann damit ab, dass wir nicht die gleichen Chancen haben wie die Deutschen.“ Er stockt. „Und dann kommt da so ein Tobias, dem noch nicht einmal das passt.“ Gholam schüttelt mit dem Kopf und blickt auf den Boden. „Das Fass war sowieso schon gut gefüllt“, beschreibt Gholam seine Wut. Irgendwann kann auch mal das größte Fass voll sein.

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