Bedrohte Art

Platt Im Hamburger Osten soll ein neuer Stadtteil mit 15.000 Wohnungen entstehen. Ansässige Landwirte wehren sich, weil sie um Tradition und Existenz fürchten
Ausgabe 38/2018
Von Stubbes Pachtland sind zwei Hektar für das neue Wohngebiet verplant
Von Stubbes Pachtland sind zwei Hektar für das neue Wohngebiet verplant

Foto: Christian Ohde/Imago

Es riecht nach Früchten, nach Kaffee, nach Kuchen und Getreide, in Rainer Stubbes Hofladen in Billwerder. Über den Hof rattert ein Mähdrescher – die Heuernte geht zu Ende. Stubbe, 55, hager, steht hinter dem Tresen und bedient Kunden. An diesem warmen Sommertag herrscht Betrieb. „An anderen Tagen sitze ich stundenlang in meinem Laden und warte auf Kunden“, sagt er.

Stubbe wiegt Obst und Gemüse, kassiert, schneidet Kuchenstücke und legt sie auf Porzellanteller, kocht fair gehandelten Kaffee, richtet ihn auf antiken Tabletts an. Seine Gäste sitzen draußen vor dem Laden an Bistrotischen und schauen auf grüne Wiesen und Weiden. Stubbes Familie bewirtschaftet den Hof seit Generationen. An sein Hemd hat er ein Schild geheftet: „Rainer“.

Billwerder gehört zu den Bergedorfer Vier- und Marschlanden im Hamburger Osten, mit weichen Böden und hohem Grundwasserstand. Hier bauen Landwirte seit Jahrhunderten Obst und Gemüse an und züchten Blumen. Die Landwirtschaft hat Tradition: Stolze Freibauern gab es einst. Im Herbst werden Erntedankfeste gefeiert. Dann schmücken die Bauern ihre Höfe und spenden Feldfrüchte an die örtliche Kirche. Auch in Billwerder wird diese Tradition gepflegt. Auf Stubbes Hof „Neun Linden“ findet Anfang Oktober ein großes Fest statt.

Hauptquartier: Spritzenhaus

Manche sprechen hier noch plattdeutsch. Geschichten von früher werden von Generation zu Generation weitergegeben. Auch Stubbe beherrscht Platt. Seine Tante hat ihm viel von früher erzählt. Er sammelt Gegenstände aus der Familiengeschichte, wie das alte Wappen der Stubbes. Es zeigt einen Pflug, Ähren und ein Rad.

Einst schmückte das Wappen ein Fenster der Dorfkirche. Seine Familie gab nach einem Brand Geld für deren Wiederaufbau. Im zweiten Weltkrieg schaffte die Kirche es dann aus Angst vor Bombenangriffen zur Seite. Später tauchte es wieder auf. Es lagert heute auf Stubbes Dachboden. Irgendwann wollte Stubbe auf seinem Hof ein Museum eröffnen. Mit dieser Idylle könnte bald Schluss sein.

In Billwerder, dem Dorf mit seinen 3.800 Einwohnern, sollen Wohnungen für 15.000 Menschen gebaut werden. Auch eine Schule, ein Sportpark und Gewerbeflächen sind geplant. Ein neuer Hamburger Stadtteil soll entstehen: Oberbillwerder. Träger der Pläne ist die Internationale Bauausstellung, ein weiterer Akteur ist die Stadtentwicklungsbehörde Hamburgs. Ein Architektenbüro hat erste Entwürfe für einen Masterplan entwickelt. Der Bau der ersten Häuser soll in fünf Jahren beginnen. Schon vorher soll Sand aufgeschüttet und das Gelände erhöht werden. Es ist das größte Bauprojekt in Hamburg nach der Hafencity und eines der wichtigsten in Europa. Allein die Größe des Areals ist enorm: 120 Hektar, also etwa 170 Fußballfelder. Der Stadtteil soll die Energie, die er verbraucht, weitgehend selbst generieren. Alles ganz ökologisch.

Billwerder liegt rechts und links des Billdeiches: riesige Scheunen, mit Reet gedeckte Katen, grüne Wiesen, Weiden und Felder prägen die Siedlung. Die Menschen wohnen hier zwischen Naturschutzgebieten, der Hamburger Innenstadt, der Elbe und der Vorstadt Bergedorf. Das Gebiet ist durch eine S-Bahn-Trasse und die Marschenautobahn gut erreichbar. Großstädter kommen her, um im Hofcafé, auf Reiterhöfen, bei Spaziergängen, Fahrradtouren oder am See auszuspannen. Nach Billwerder kamen die Hamburger schon vor vierhundert Jahren. Wer es sich leisten konnte, ging hier in die Sommerfrische. In dem Dorf machte sich ab dem 16. Jahrhundert die Mode der Hamburger Kaufleute breit. Trachten werden deshalb kaum noch getragen, anders als in den umliegenden Gemeinden. Für die Politik ist das Neubaugebiet Oberbillwerder ein Vorzeigeprojekt und Hamburgs Beitrag zur Linderung der Wohnungsnot.

Für Stubbe könnte es das Ende sein. Der neue Stadtteil wird zu Bergedorf gehören, der großen Vorstadt im Hamburger Osten. Es ist nicht das erste Neubaugebiet, das auf der grünen Wiese vor Hamburg entsteht. Auch Neuallermöhe, Neuallermöhe-Ost und Neuallermöhe-West wurden am Reißbrett entworfen. Hamburg will weiter wachsen. Rainer Stubbe will das verhindern.

Der Mittfünfziger wuchs in Billwerder auf, ging zum Studium nach Hannover, wurde Diplomingenieur für Landschaftspflege. Geht es nach Stubbe, der zwei erwachsene Kinder hat, wird sein Sohn den Hof irgendwann übernehmen.

Ganz so einfach ist das nicht: Das Land hat Stubbe von der Stadt nur gepachtet. Nun soll darauf teilweise das Neubaugebiet entstehen: Entlang des Billdeiches gibt es mehrere Höfe, auf und von dem Land in Billwerder leben Bauern seit Generationen. Sie züchten Rinder oder bauen Obst und Gemüse an. Der Reiterhof gehört einem Verwandten von Stubbe.

Manche der Bauern könnten mehr als hundert Hektar Land verlieren. Nicht nur durch das Neubaugebiet selbst, sondern auch durch sogenannte Ausgleichsflächen: Damit die Natur nicht leidet, soll möglichst nahe am geplanten neuen Stadtteil Platz für Tiere und Pflanzen geschaffen werden – auf der Pacht der Bauern. Auf fast jedem Hof und an vielen Wohnhäusern in Billwerder sind deshalb Schilder angebracht. Sie stehen in den Vorgärten oder hängen an den Zäunen: „Nein zu Oberbillwerder!“ steht darauf.

Stubbe ist einer der Köpfe der Bürgerbewegung, die gegen den neuen Stadtteil mobil macht. Ihr Hauptquartier haben sie im Spritzenhaus der ehemaligen freiwilligen Feuerwehr des Ortes. In dem restaurierten Backsteinbau lagern die Schilder mit dem Slogan der Projektgegner, hier trifft sich der Heimatverein „Dorfgemeinschaft Billwärder“, in dessen Vorstand Stubbe sitzt. Billwärder, mit Umlaut: So schrieb sich das Dorf in den 1890er Jahren. Damals waren die Bauern noch Grundbesitzer und nicht bloß Pächter. In der Vereinszeitung häufen sich Artikel gegen die Pläne der Stadtentwickler. Der Verein hat rund 250 Mitglieder, die meisten sind Anwohner. Zu einer Versammlung im Mai kamen fast 300 Leute. Stubbe und seine Leute ermutigt das. „Wir erwägen auch rechtliche Schritte“, sagt er.

Der Laden ist geschlossen. Stubbe sitzt in seinem Hofcafé in der Abendsonne, trinkt sein Feierabendbier, redet von früher. Anfang des 20. Jahrhunderts verkaufte sein Großvater Land und Hof an die Stadt Hamburg, für eine Reichsmark pro Quadratmeter. Die Stubbes wurden nach damaligen Maßstäben reich, andere Bauern verkauften ebenfalls. Der politische Druck war groß: Man wollte Industrie in Billwerder ansiedeln, unter anderem Rüstungsfabriken. Doch daraus wurde nichts, und die Bauern pachteten Land und Höfe. Der Rückkauf der Höfe steht seit Längerem im Raum. Bislang konnten sich Landwirte und Politik aber nicht auf einen Preis einigen. Und seit es die Pläne für das Neubaugebiet gibt, haben die Bauern Angst zu investieren. Wiesen, Felder und Weiden würde die Stadt wohl ohnehin nicht mehr hergeben, und was nutzen Scheunen, Lagerräume und Wohnhäuser, wenn die Felder fehlen?

Arne Dornquast ist Stadtplaner, seit 2011 Leiter des Bergedorfer Bezirksamtes und Bürgermeister von Bergedorf, dem Billwerder zugerechnet wird. Er sitzt in seinem dunkelbraun getäfelten Amtszimmer am wuchtigen Holztisch, Kronleuchter, schwerer Teppich. Er kennt Rainer Stubbe, für ihn ist er ein Gemäßigter, jemand, mit dem er reden kann. Er hofft, dass das so bleibt.

Dornquast hält in Billwerder eine Flurbereinigung für denkbar. Dadurch könnte die Pacht der Bauern neu geordnet werden. Noch ist unklar, welche Folgen eine solche Maßnahme für die Bauern hätte: „Auch die Option, dass nur einer der Pächter auf einen anderen Hof umsiedelt und seine Pachtfläche auf die anderen Pächter verteilt wird, ist theoretisch denkbar. Diese würden unterm Strich dann nichts verlieren. Solche Überlegungen gibt es seit Längerem.“

Scheune ohne Feld

Von Stubbes Pachtland sind zwei Hektar für das neue Wohngebiet verplant. Diese wird er abtreten müssen. Zudem soll eine Baustraße über einen anderen Teil seines Landes führen. Sein Pachtvertrag läuft zwar noch bis 2034. Doch eine Klausel im Vertrag regelt, dass die Stadt Stubbe für Neubaugebiete Land wegnehmen darf.

Stubbe war zwölf, als er das erste Mal von den Plänen für ein weiteres Neubaugebiet erfuhr. Für den Fall, dass alles so kommt, wie es Hamburger Politikern vorschwebt, hat er nun seinen eigenen Masterplan: „Ich bewerbe mich dann als Bürgermeister von Oberbillwerder“, sagt er ernst. Doch das neue Wohnviertel wird gar keinen eigenen Bürgermeister bekommen.

Die Fronten zwischen Stadt und Bauern sind verhärtet. Die Bauern wissen nicht, wen es am Ende trifft. „Die Gutachter der Stadt waren hier“, sagt Stubbe besorgt. Sie hätten ihm gesagt, dass er doch eigentlich gar keine Landwirtschaft mehr machen würde. „Dann könnte mit meinen Flächen ein anderer Bauer kompensiert werden.“ Oder ist es nur Angstmache? Stubbes Hof ist mit rund 40 Hektar einer der kleineren hier. Andere Bauern könnten weit mehr verlieren. Wessen Flächen werden wie beschnitten? Wer muss ganz gehen? Wer bekommt vielleicht etwas dazu? Und wo? Die Fragen treiben die Bauern auseinander.

Stubbe und seine Mitstreiter sehen nicht nur ihre Höfe, sondern auch Vogelarten gefährdet, unter anderem leben der Wachtelkönig, die Rohrweide und die Bekassine hier. Das Land der Bauern liegt zwischen zwei Naturschutzgebieten. Das Neubaugebiet würde das Biotop zerstören. Der Bürgermeister hält die Sorgen für unbegründet: „Ich glaube nicht, dass hier auf einmal bedrohte Arten entdeckt werden, die wir seit 20 Jahren nicht gesehen haben.“

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