Der rechte Platz

Porträt Stephan Karrenbauer kümmert sich um Notunterkünfte für Obdachlose, hält Trauerreden und feiert jetzt mit dem Hamburger Straßenmagazin „Hinz und Kunzt“ Jubiläum
Ausgabe 23/2018
„Ich bin schließlich kein Trauerbeauftragter“
„Ich bin schließlich kein Trauerbeauftragter“

Foto: Paula Markert für der Freitag

Nachmittags um halb drei versammeln sich die Straßenverkäufer vor dem Sitz der Zeitung, einem flachen, roten Backsteinbau in der Altstädter Twiete nahe dem Hamburger Hauptbahnhof. Sie warten geduldig. Manche tragen eine Weste mit dem Hinz-und-Kunzt-Logo, dem Schriftzug des Hamburger Obdachlosenmagazins.

Im nüchternen Empfangsraum geben sie ihre Einnahmen bei einem Kollegen ab. Die Kleingeldzählmaschine rattert. Es ist sommerlich, ein guter Verkaufstag. Dann gehen sie zum Tresen, bunte Tassen und Thermoskannen stehen darauf. Der Kaffee ist umsonst. Stephan Karrenbauer kommt herein. Ein schlanker Mittfünfziger mit langen Haaren, er trägt schwarze Weste über weißem Hemd. Er ist als Sozialarbeiter bei Hinz und Kunzt, und nach Ansicht einiger Kollegen hat er nicht mehr alle Tassen im Schrank: Karrenbauers Kollegen sind meist Obdachlose. Oft hat er sie sogar selbst angestellt. „Wer gibt schon einem Obdachlosen einen Job?“, scherzen sie.

Stephan Karrenbauer kennt die Nöte der Ärmsten in der Hansestadt gut, auch den Humor der Obdachlosen hat er drauf, das Kokettieren mit der eigenen Misere und dem schlechten Ansehen. Galgenhumor. Karrenbauer hilft, die Sorgen zu vertreiben.

Früher bekamen Obdachlose Sozialhilfe. Dann kam die Agenda 2010, und sie rutschten automatisch in Hartz IV. „Plötzlich waren die alle arbeitsfähig“, sagt Karrenbauer. Kein Arzt oder Sozialarbeiter wurde dazu offiziell konsultiert. Immer wieder bekommen Wohnungslose deshalb Sanktionen, ihnen wird ein Teil der Unterstützung gestrichen, weil sie sich nicht um einen Job bemühen oder Termine verpassen. Karrenbauer und sein Team schreiben dann Widersprüche und drohen mit Klagen. Oft haben die Beamten ein Einsehen.

Nach Londoner Vorbild

Journalismus und soziale Arbeit, für beides steht das Hamburger Straßenmagazin Hinz und Kunzt. Es ist eine der ältesten Straßenzeitungen Deutschlands – und mit mehr als 60.000 verkauften Magazinen pro Monat die erfolgreichste. Vor 25 Jahren erschien die erste Ausgabe, nach dem Vorbild der Londoner Zeitung The Big Issue.

Obdachlose können das Magazin für 90 Cent einkaufen, verkaufen es für 1,90 Euro weiter. Die Zeitung setzt sich für die Belange von Obdachlosen ein und wird von ihnen (etwa 530 Verkäufer) auch vertrieben. Die Macher um Chefredakteurin Birgit Müller verfolgen einen Journalismus mit konstruktivem Ansatz – und wollen auch Lösungen für die oft wohnungslosen Verkäufer bieten. Journalismus und Sozialarbeit gehen hier Hand in Hand.

Die Probleme der Verkäufer spiegeln sich im Blatt wider: Schwerpunkte sind Obdachlosigkeit, Armut, Zuwanderung, schlecht bezahlte Arbeit und fehlende oder überteuerte Wohnungen. Ein Jahr nach der Gründung des Magazins kam der Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer zu dem Projekt. Der frühere Suchttherapeut fungiert heute auch als politischer Sprecher der Zeitung, leistet Hilfe bei rechtlichen Fragen und Ämtergängen. Er kämpft für den Verbleib von Notquartieren und für Pfandregale an Mülleimern.

Das ganze Jahr über wird in Hamburg das 25-jährige Jubiläum gefeiert, es gibt eine Plakatkampagne und ein Pop-up-Restaurant mit Starköchen. Geplant sind noch ein Kochbuch, ein Poetry-Slam und ein Benefizkonzert mit der Sängerin Ina Müller.

Karrenbauer wirkt gelassen, wenn er von einem Vierteljahrhundert Sozialarbeit bei Hinz und Kunzt erzählt. Er lacht viel. Nur bekam er häufig seine Grenzen zu spüren. Hunderte Menschen hat Karrenbauer in all den Jahren schon verloren, viele davon im Winter. Die Toten liegen auf dem Öjendorfer Friedhof bei Hamburg begraben. Dort steht eines der Krematorien der Stadt. Die Gräber kennzeichnet eine Nummer. Anfangs stand Karrenbauer bei den Beerdigungen allein am Grab. Die Obdachlosen hätten ihn sogar dorthin geschickt: „Geh du mal hin“, haben sie ihm gesagt. Wenn einer von ihnen stirbt, dann müssen sie auch ihrem eigenen Schicksal ins Auge blicken. Irgendwann wurde es Karrenbauer zu viel: „Ich bin schließlich kein Trauerbeauftragter.“ Er sprach dann mit der Friedhofsverwaltung. Nun gibt es auf dem Friedhof einen Baum, der an die Verstorbenen erinnert. Jedes Jahr zum Totensonntag geht Karrenbauer dorthin und lädt die Obdachlosen ein, ihn zu begleiten. Oft kommen welche mit. Für ihn ist das ein kleiner Erfolg. Sie können jetzt trauern.

Karrenbauers Arbeitsplatz ist sein Büro, ein schlicht eingerichteter, rechteckiger Kasten mit großem Fenster zum Vorraum hin, zum Kaffeetresen. Der Schreibtisch hat Schrammen und Macken. An der Wand hängt eine Pinnwand mit lauter bunten Briefen, Karten, Fotos und Kinderzeichnungen. Auf einem Regal neben der Tür steht ein Playmobil-Luther. Er hält eine Feder in der einen, ein großes Buch in der anderen Hand. Als würde er gerade die Bibel übersetzen. Es ist ein Geschenk vom Diakon der evangelischen Kirche, die auch Verleger von Hinz und Kunzt ist. Karrenbauer ist katholisch.

Flughafenflaschen

Er wuchs in Hamburg-Fuhlsbüttel auf. Sein Vater arbeitete im Justizvollzug, seine Mutter war als Hausfrau daheim. Sie stammt ursprünglich aus Schlesien. Jeden Sonntag ging Karrenbauer mit seinen Eltern und drei Geschwistern in die Kirche. Vor allem aber brachte sein Vater Insassen aus dem Gefängnis mit nach Hause, zum Beispiel für die Gartenarbeit. Meist saßen die auch mit am Abendbrottisch, erzählt Karrenbauer. Er fing an, sich für Sozialarbeit zu interessieren. Nach dem Hauptschulabschluss und einer Lehre als Automechaniker kamen der Zivildienst und die Ausbildung an der Erziehungsfachschule, dann ein Studium und die Arbeit mit Drogenabhängigen. Die Geschichten der Suchtkranken waren Karrenbauer auf Dauer zu heftig, er ging zum Straßenmagazin.

Wenn die Tür seines Büros offen steht, kann jeder reinkommen und mit ihm reden. Ist die Tür geschlossen, so wie jetzt, hat er zu tun. So lautet die Regel. Karrenbauer will sich den Menschen von der Straße nicht aufdrängen. „Ich kann schlecht sagen: ‚Komm mal her und rede mit mir, du hast doch ein Problem‘“, sagt er. Er wartet lieber, bis die Obdachlosen zu ihm kommen. Er kann das gut: einfach so dasitzen und warten, bis die anderen berichten, von Drogenproblemen, gierigen Vermietern, verständnislosen Ämtern. Oder vom Ärger wegen Flaschensammeln.

Retten, was zu retten ist: Stephan Karrenbauer, vierzig Minuten vor zwölf

Foto: Paula Markert für der Freitag

Ein junger Mann kommt ins Büro und schüttelt einen schwarzen Geldbeutel, wie ihn Banken verwenden, Münzen klimpern. „Dreihundert Euro“, sagt er. Gar nicht schlecht. Das Geld, erklärt Karrenbauer später, stammt aus einem Hilfsprojekt am Hamburger Flughafen, das er selbst organisiert hat. Karrenbauer stimmt sich mit dem Mann für einen Termin in Bergedorf ab, einem Vorort im Hamburger Osten. Dort soll es einen Vermieter geben, der Menschen ohne festen Wohnsitz überhöhte Mieten in bar abknöpft, Wohnungen überbelegt und seine Einnahmen verkokst. Das jedenfalls hat Karrenbauer gehört. Er will sich das genauer anschauen. Der junge Mann verschwindet wieder. Er studiert soziale Arbeit und lernt bei Hinz und Kunzt die tägliche Arbeit des Sozialarbeiters kennen. Im Moment betreut er das Projekt am Hamburger Flughafen mit.

Dort werden Pfandflaschen mittlerweile organisiert von Hinz-und-Kunzt-Mitarbeitern eingesammelt, von einer studentischen Hilfskraft und drei ehemaligen Langzeitarbeitslosen. Am Flughafen sind Sammelbehälter aufgestellt. Das Pfand wird dann an das Obdachlosenmagazin überwiesen. Davon werden die vier Angestellten des Projekts bezahlt. Die Betreiber des Flughafens hatten 100 Klagen gegen Flaschensammler eingereicht. Karrenbauer initiierte eine Petition, die auf den Missstand aufmerksam machte. Schließlich zog der Flughafen seine Klagen zurück. Im Gegenzug stoppte Karrenbauer die Petition und rief dann das Projekt ins Leben. Inzwischen gibt es am Flughafen eine gewisse Duldung für Obdachlose. Das Areal ist für die Sammler zu lukrativ, seitdem als Folge der 9/11-Anschläge keine Flüssigkeiten mehr in die Flieger mitgenommen werden dürfen. Vorbild für das Projekt war ein ähnliches Modell in Stuttgart. Dorthin reiste Karrenbauer vor vier Jahren mit einer Flughafenmitarbeiterin, um sich ein Bild zu machen.

Die Zeitung verkauft sich gut

In Hamburg ist das Flaschensammeln inzwischen hart umkämpft: Normale Hartz-IV-Empfänger und Rentner konkurrieren mit den Obdachlosen um das Pfand. Die meisten Flaschensammler haben feste Routen und bestimmte Orte, die sie diszipliniert abgrasen – am Flughafen, bei Fußballspielen. „Für Obdachlose ist da kaum noch Platz“, sagt Karrenbauer. Umso wichtiger sei ihm das Airportprojekt.

Karrenbauer ist umtriebig. Er hält Vorlesungen über Sozialarbeit an der Universität, und wenn ein Anruf von Beamten im Bezirk Mitte kommt, dann fährt er raus und guckt sich vor Ort die Lage an. Meist soll eine Platte, also ein Obdachlosencamp, geräumt werden. Er redet dann mit den Bewohnern und ermutigt sie, zu gehen, um Streit mit den Behörden zu vermeiden. Wenn Karrenbauer erst spät von einem Einsatz erfährt, versucht er zu retten, was zu retten ist.

Er setzt sich dafür ein, dass das wenige Eigentum der Obdachlosen – Kleidung, Zelte, Schlafsäcke, private Dinge – nicht weggeworfen wird.

„Ich möchte hier an meinem Schreibtisch sitzen, und wenn jemand hereinkommt, möchte ich eine Schublade aufmachen können, in der drei oder vier Mietverträge zur Auswahl liegen“, sagt er. So wünscht er sich das. „Ich könnte dann fragen: Welche Wohnung willst du?“

Etwa 2.000 Obdachlose gibt es in Hamburg, das schätzt Hinz und Kunzt. Laut offizieller Zahlen der Stadt sind es wenig mehr als 1.000. Momentan wertet ein Forschungsinstitut die Daten einer neuen Zählung im Auftrag der Stadt aus. Dazu wurden Umfragen in Notunterkünften gemacht. Karrenbauer vermutet, dass die Zahl gestiegen ist. Auch die Hamburger Sozialbehörde geht davon aus. Der Grund: Polen und Bulgaren, die aufgrund der erweiterten Freizügigkeit in der EU nach Deutschland gekommen sind. Karrenbauer wirkt jetzt zum ersten Mal etwas ratlos.

1,4 Millionen Euro im Jahr kosten die Herstellung der Zeitung Hinz und Kunzt und die verschiedenen Hilfsprojekte. Nur etwa die Hälfte wird über Spenden finanziert. So gut verkauft sich die Zeitung. Das meiste Spendengeld kommt in der Weihnachtszeit, im November und Dezember. Oft ist das Magazin mit seinen Zahlen dann schon im roten Bereich.

An einem Märztag sitzt Stephan Karrenbauer bei einem Italiener im Hamburger Schanzenviertel. Ein Haus weiter läuft gerade eine der vielen Aktionen anlässlich des 25-jährigen Bestehens des Blattes in diesem Jahr. In einem Pop-up-Restaurant kochen Starköche wie Tim Mälzer für Hamburger Bürger und Obdachlose: Wer kann, zahlt. Wer nichts hat, bekommt trotzdem was. Karrenbauer ist schon mittags hergekommen, weil abends alles ausgebucht war. Doch selbst für ihn war kein Platz mehr im Restaurant, auch seine Chefin, die Gründerin des Magazins, Birgit Müller, muss ausweichen. Karrenbauer winkt ihr, als sie mit Begleitung hereinkommt. Doch sie zieht weiter.

Nach dem Essen berichtet Karrenbauer von einem seiner schwersten Fälle. Anfang dieses Frühjahrs ist ein Obdachloser fast erfroren, nur wenige Meter vom Büro des Straßenmagazins entfernt. Nun sitzt er im Rollstuhl, ohne Beine und Fingerkuppen. Der Mann weigerte sich, am Winternotprogramm teilzunehmen, in den Unterkünften sind weder Alkohol noch Zigaretten erlaubt. Er wollte auf die Flasche neben dem Bett und das Rauchen nicht verzichten. „Das war auch für mich ein krasser Fall“, sagt Karrenbauer. Eigentlich gehöre der Mann zur besseren Obdachlosenwelt – die spalte sich in zwei Klassen. Auf der einen Seite Obdachlose mit Hartz-IV-Bezug und Platz im Winternotprogramm. Auf der anderen Seite die Bulgaren, die in der ersten Zeit nur vom Flaschensammeln leben müssten. Neid und Gewalt brächte das mit sich. Er muss dann vermitteln und Verständnis bei den Obdachlosen wecken. Für solche, die noch weniger haben.

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