Am Eingang zum Beach Club Central Park im Hamburger Schanzenviertel stapfen junge Leute durch den Sand. Tonnenweise haben Max Unverricht und einige Kompagnons den hier aufschütten lassen, dazu eine Bar und eine Bühne aus Holz aufgebaut. Auch junge Familien sind hier. Die Kinder spielen im Sand. Max Unverricht sucht ein ruhiges Plätzchen. Schließlich setzt er sich auf eine Bank außen an den hohen Holzzaun, der den Beach Club begrenzt.
Er schaut auf das angrenzende Grundstück, einen Bauwagenplatz. „Im Grunde war das eine Hundekackfläche“, sagt er und deutet auf seinen Strandclub hinter dem Zaun. Gemeinsam mit John Schierhorn vom Club Waagenbau sowie weiteren Mitstreitern stellte Unverricht die nötigen Anträge bei den Ämtern und warb für das Projekt. Schließlich bekamen sie eine Konzession. Ihre Vorbilder waren ähnliche Clubs am Hamburger Hafen: Im Jahr 2002 entstanden die ersten Beach Clubs in der Hansestadt, auf Brachflächen mit Elbblick. Nach der ersten Saison sprach sich in der Barszene herum, dass sich mit dem Konzept gutes Geld verdienen lässt. Nur gibt es im Schanzenviertel kein Wasser. Etwa vier Jahre dauerte es, bis Unverricht und seine Kollegen das Geld wieder heraushatten.
Als Wirt und Kneipier hat Unverricht das Viertel in den vergangenen Jahrzehnten mitgeprägt. Er hat erlebt, wie es sich entwickelt und verändert hat und mischte dabei kräftig mit. Der Beach Club ist nur eine Station auf unserem Rundgang durch das Viertel. Unverricht – Baseballkappe, tailliertes Hemd, hagere Figur und glattrasiert – ist überzeugt, dass die Sternschanze den Zenit als hippes Viertel überschritten hat: Es werden keine neuen Flagshipstores mehr kommen und weniger auf maximalen Profit getrimmte Läden, Bars und Restaurants. Manche Läden werden schließen, das Ganze wird sich normalisieren. Das ist seine Sicht auf die Zukunft des Viertels.
Er kann darüber stundenlang reden, mal sanft, mal rotzig, immer unkompliziert. Der Mann ist Barkeeper, er hat Jahrzehnte mit alkoholisierten Menschen verbracht. Unter seinen Kunden waren Stars und Hipster, Leute aus dem Viertel, Szenegänger, Partytouristen und Aktivisten. Er hat sie alle bedient. „Auch die Linken haben Geschmack an teuren Whiskeys und gutem Wein gefunden“, sagt Unverricht. Für manche von ihnen ist er dennoch eine Art Zielscheibe. Sie sehen in ihm jemanden, der mit seinen Läden die Gentrifizierung vorantreibt. Er hat dafür wenig Verständnis.
Die Eckigen
Cornern ist ein Anglizismus, basierend auf dem englischen Substantiv „corner“ (dt. Ecke). Als Verb verwendet („to corner“), bedeutet der Begriff in der englischen Sprache jedoch auch, jemanden einzuengen oder in die Enge zu treiben: „Alright, you got me, I’m cornered!“ oder „Give up! You got nowhere to go! You’re cornered.“ Die Verwendung kann dabei metaphorisch im Rahmen einer Debatte, aber auch wörtlich, etwa bei einer Verfolgung, erfolgen.
Im Deutschen wird mit dem Anglizismus eine Verhaltensweise von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, oft Studenten, beschrieben, die sich im Sommer mit Getränken – meist Bier oder Wein – auf Bürgersteige, Brücken oder in Hauseingänge setzen. Das Phänomen konzentriert sich oft auf die Ausgehviertel großer Städte oder auf Volksfeste.
Hintergrund der Entwicklung sind der Verlust von öffentlichem Raum, gutes Wetter, exklusive oder überfüllte Kneipen, aber auch als zu hoch empfundene Alkoholpreise. In Hamburg und Berlin wird das Phänomen von der Politik als Problem begriffen und teils aktiv bekämpft. Oft sind Beschwerden von Anwohnern über die Lautstärke die Ursache, da meist abends und bis hinein in die Nacht gecornert wird. Gastronomen sehen im Cornern zudem eine Gefahr für ihre Existenz, da der Alkohol oft mitgebracht wird.
In jüngerer Zeit hat sich der Begriff deshalb gewandelt: So wird teilweise gezielt zu „Corner-Demos“ aufgerufen. Auch wird der Begriff als abfälliges Synonym für Herumhängen oder Herumdrücken verwendet.
Unverricht wuchs in Frankfurt am Main auf. Dort ging er als junger Mann auf Demos. Damals drehte sich alles um die Startbahn West, die Räumung besetzter Häuser und um Tschernobyl. Er war links und dagegen, und seine Freunde waren es auch. 1986 zog er nach Hamburg, er hatte Fernweh und wollte Journalist werden. Zunächst kam er bei Freunden unter, wohnte in verschiedenen Wohnungen in der Schanze, später auch auf dem Kiez. Die Leute, die er traf, waren links, aber keine Demogänger.
Als Ende der Achtziger in dem Gebäude der späteren Roten Flora ein Musical-Theater entstehen sollte, ging Unverricht aus Solidarität zu den Veranstaltungen derer, die das Haus besetzten. Mitte der Neunziger, nach dem Brand der Roten Flora, spendete er für den Wiederaufbau des linken Kulturzentrums. Das T-Shirt mit dem Feuerlöscher-Zeichen darauf, das die Unterstützer bekamen, hat er aufgehoben. Ein Studium der Philosophie und der Medienwissenschaften schmiss er nach wenigen Semestern hin, Barkeeper und Wirt konnte er besser: Journalist wurde er nie. Heute ist der Mittfünfziger Vater von drei Kindern und hat einen Hund.
Auch Axel Prahl darf rein
Unverricht sitzt jetzt auf einer Bierbank vor der Bar 439 in der Vereinsstraße, in der Hand ein Glas Gin Tonic. Sein Käppi liegt vor ihm auf dem Tisch. Zum ersten Mal an diesem Freitagabend ist seine Glatze zu sehen. Jahrelang hat er hier selbst am Tresen gestanden. Es war sein Laden, seine erste eigene Kneipe. Inzwischen ist die Bar längst in anderen Händen. „Vielleicht fange ich hier irgendwann wieder am Tresen an“, sagt Unverricht. Die Arbeit als Barmann mache ihm Spaß, er fühle sich dazu berufen. Die neue Inhaberin hat er schon gefragt. Sie sei noch unentschlossen.
Als er den Laden 1988 eröffnete, war er Anfang 20. Die Räume renovierte er selbst: Tagelang saß er auf einem Gerüst und kratzte an der Decke herum, um ein Stück alten Stuck aufzuarbeiten. Dann kam jemand vom Amt vorbei und besah sich das Ganze. Der Mann bestand auf einer Zwischendecke, die den Schall schluckt.
Unverricht schaut durch die großen Fenster in die Bar und zeigt gen Decke. Vom Stuck darunter ist nichts zu sehen. Er schüttelt den Kopf. Dann kommt ein Mann mittleren Alters, kurze Haare, Hemd, Jeans, an den Tisch. Unverricht begrüßt ihn laut mit Namen, so dass ihn alle hören. Er muss jetzt kurz in die Kneipe und mit ihm quatschen. Als er zurückkommt, bringt er Bier in Flaschen mit. Das sei ein Stammgast, erzählt er, der früher oft mit einem Kolumnisten vom Spiegel zusammen in einer Ecke gesessen und das Geschehen kommentierte habe.
1998 eröffnete Max Unverricht seine zweite Kneipe: Die Bar Rossi an der Kreuzung Max-Brauer-Allee und Schulterblatt. In den ersten Jahren standen die Gäste Schlange vor der Bar. HipHop bis House und eine Einrichtung im Stil der Sechziger und Siebziger zogen sie an. Immer wenn ein Luxusauto vor der Tür parkte, wusste Unverricht: Ein Promi ist da. Boris Becker kam zu einer Ausstellungseröffnung, auch Axel Prahl und viele andere waren bei Unverricht. Nur einmal gab es wegen der Stars Ärger: Eine zeitlang schrieb ein Reporter der Bild die Kolumne „Gestern in der Bar Rossi“. Irgendwann schmiss Unverricht ihn raus. „Das war ein schrecklicher Schnösel“, sagt er. Doch der Reporter kam wieder, und mit Gewalt wollte Unverricht das Hausverbot nicht durchsetzen. Ihm ist wichtig, dass jeder willkommen ist.

Foto: Kolja Warnecke für der Freitag
Am 1. April, auf den Tag genau 20 Jahre nach Eröffnung der Bar Rossi, gab Unverricht ihr Ende bekannt. Cornern und billiger Alkohol vom Kiosk seien die Ursachen, gab er damals der Hamburger Lokal- und Boulevardpresse zu Protokoll. Doch auch das Rauchverbot machte ihm zu schaffen: Kleine Hamburger Kneipen sind davon ausgenommen. Die Bar Rossi aber war dafür zwölf Quadratmeter zu groß. Anfangs blieben nur die Eckensteher weg, die sich bloß eine Zigarette nach der anderen rollten und wenig tranken. Unverricht war das recht. Doch nach und nach fehlte ihm das Laufpublikum, erst unter der Woche, dann auch am Wochenende. Die Bar Nuoar nebenan war gerade neu, ein Party- und Absturzschuppen mit Chartmusik, der fast immer gerammelt voll war. Sie schloss wieder, stattdessen eröffnete dort das Good Old Days: eine Konzeptbar rund um das Thema Prohibition. Sie zog weit weniger Gäste an. Doch Unverrichts Laden, der blieb weiter leer.
Anfang Mai ist die Tür zur Bar Rossi verschlossen. Über dem Eingang steht noch in großen, hellblauen Lettern der Name, doch das Licht ist aus. Durch die Fensterscheiben und die Glastür sieht man Kisten und Werkzeug. Auf ein Klingeln am Seiteneingang öffnet Unverricht die Tür zum Treppenhaus. Er hat noch die Schlüssel. Durch das Büro der Bar im Obergeschoss führt er in einen großen angrenzenden Raum. Hier setzt er sich auf eine der weiß lackierten geschwungenen Holzbänke, die entlang einer Fensterfront verlaufen. Der Raum wurde früher für Firmenfeiern vermietet oder als Partylokal genutzt. Ein DJ-Pult steht hier und gegenüber den Fenstern eine Theke. Auf der Fensterbank stapeln sich Akten. Im Büro nebenan liegen Hefter und Papiere, Flyer und Plakate auf den Schreibtischen verstreut. Das war in den vergangenen Jahren Unverrichts Arbeitsplatz. Der Deal mit den neuen Betreibern ist frisch unterschrieben, Clubmachern aus der Schanze. Sie haben schon einen HipHop- und Grime-Club und eine Bar aufgezogen.
Etwa 28 Kioske gibt es zwischen Sternschanze und Kiez. Unverricht hat sie gezählt. Für ihn ist das wichtig. Denn die Anwohner geben die Schuld am Cornern, am Lärm und Dreck oft den Kneipen. Zu Unrecht, wie viele Wirte finden. Vor allem im Sommer häufen sich aber die Beschwerden. Die Behörden sind damit seit Jahren überfordert. Deshalb sollen Hilfspolizisten her, die sich um das Cornern, um Wildpinkelei und Lautstärkeprobleme kümmern. Das forderten vor allem konservative Hamburger Politiker immer wieder. Nun gaben die hiesigen Sozialdemokraten nach: Insgesamt einhundert Polizisten sollen in den nächsten beiden Jahren angestellt werden. Mindestens zehn davon werden auch für die Sternschanze zuständig sein.
50.000 Mark in Deckeln
Für viele Wirte ist die Lage längst klar: Sie haben immer wieder mit Aktionen auf die Konkurrenz durch die Kioske aufmerksam gemacht. Und sie haben die Politik auf ihrer Seite: Ein neues Gesetz soll diesen Sommer im Senat eingebracht werden. Es soll den Alkoholverkauf in den Kiosken zeitlich begrenzen, eine Art Sperrstunde einführen. Aus SPD-Kreisen heißt es, die notwendigen Mehrheiten seien jetzt da.
Mitte der Achtziger gab es nur wenige Bars und Kneipen für Künstler und Szenegänger im Schanzenviertel. Das Subito unweit des Schulterblatts war damals ein Treffpunkt. Auch Unverricht landete dort manchmal. Hier suchte er Anschluss in seinen ersten Jahren in Hamburg. Bernd Begemann und Bela B. gingen in der Souterrain-Kneipe ein und aus. Wie alle ließ auch Unverricht dort anschreiben. Als ein Bekannter von ihm die Kneipe übernahm, half er beim Renovieren. In einer Schublade fanden sie unbezahlte Deckel. Bei rund 50.000 Mark, so schien es, hatte der alte Wirt aufgehört, die Schulden der Gäste aufzuschreiben. Heute steht der Laden leer, überall kleben Plakate und Sticker, die Eingangstür ist voller Graffiti. Nichts erinnert mehr an die Kneipe.
Fast ein halbes Dutzend Bars und Clubs hat Unverricht schon aufgezogen. Manche in der Sternschanze, andere auf dem Kiez: Der Club Lounge lag direkt gegenüber dem Eingang zur Herbertstraße, wo Nacht für Nacht Prostituierte in den Schaufenstern sitzen. Ein DJ und Produzent, mit dem er den Laden schmiss, veröffentlichte unter dem Label Lounge Records auch Musik.
Das Label gibt es noch, die Lounge aber ist seit über zehn Jahren dicht. Sie ist, wie viele Läden auf dem Kiez und in der Sternschanze, von hohen Mieten, der Konkurrenz, Stadtentwicklungspolitik und verändertem Ausgehverhalten eingeholt worden. Solcherlei Veränderung und die damit einhergehenden Konflikte – für Max Unverricht sind sie längst Teil seines Lebens.
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