Als Juniorprofessor ist er sehr beschäftigt, aber Daniel Martin Feige nimmt sich die Zeit für ein Telefonat. Seine Stimme klingt sanft, aber bestimmt. Wenn er über alte und neue Computerspiele redet, wirkt er wie ein enthusiastischer Gamer.
der Freitag: Herr Feige, warum sollten wir Games spielen?
Daniel Martin Feige: Ich bin mit dem Medium aufgewachsen, für meine Generation gehörten Videospiele einfach zum Alltag. Ich hatte schon einen Amiga, dann eine Nintendo-Konsole und später dann einen PC. Das Spiel Planescape: Torment habe ich damals verschlungen, so wie einen guten Roman. Man entdeckt mit den Augen des Protagonisten eine bizarre Spielwelt. Die Art, wie da inhaltlich Themen verhandelt werden, das war großartig.
Welche Themen?
Die Spielfigur hatte sich schon vor Spielbeginn in vielfältiger Weise schuldig gemacht und das ganze Spiel war eine Selbstthematisierung unserer Verantwortung für die Konsequenzen unseres Handelns und eine kluge Meditation über Schuld und Individualität.
Sie schreiben in Ihrem Buch „Computerspiele“, man könne diese als Kunst betrachten.
Das Computerspiel ist zunächst ein Medium wie Literatur oder Film, und auch hier ist nicht alles Kunst. Die Kunstfähigkeit des Computerspiels liegt darin, dass es seine eigenen Spielmechaniken thematisieren kann.
Inwiefern?
Spielen bedeutet dann nicht nur, den Regeln des Spiels zu folgen, sondern das Kunstfähige des Computerspiels besteht darin, dass die Spielenden in und durch das Spielen etwas über sich erfahren; dass sie sich im Spielen sozusagen in ihrer Identität selbst durchspielen.
Sind Ego-Shooter Kunstwerke?
Ein Shooter-Spiel wie Half Life ist zwar für seine narrative Qualität gerühmt worden und für seine Art und Weise, den Spieler durch die Spielwelt zu führen, da war es bahnbrechend. Aber ich bezweifle, dass es sich zu der eigenen Art und Weise, ein Spiel zu sein, so verhält, dass der Spielende dabei etwas über sich selbst erfahren kann. Half Life etabliert eine neue Art des Erzählens. Dadurch, wie in der Spielwelt durch Trigger Ereignisse ausgelöst werden, also ein Environmental Storytelling zustande kommt, ist das Spiel interessant und nützlich.
Environmental Storytelling?
In Videospielen kann eine Geschichte nicht nur durch Worte erzählt werden, sondern man erkundet etwa einen Raum. Dort liegt ein abgerissenes Kleidungsstück auf dem Boden. Der Raum erzählt eine Geschichte dessen, was dort passiert sein kann. Im Film geschieht das durch Setting, im Theater gibt es das Bühnenbild. Diese Erzählweisen in Games sind nicht vor allem an Sprache gebunden, sondern auch an Objekte und Interaktionsmöglichkeiten.
Welches Spiel kommt einem Kunstwerk am nächsten?
Das kann man nicht abstrakt ohne eine Erfahrung dieser Spiele beantworten. Meines Erachtens gehören dazu spiele Spiele wie Bioshock oder jene, in deren Tradition es steht. In den beiden System-Shock-Teilen oder auch dem Spiel Thief sehe ich, wie etwas aus dem Spielgeschehen heraus etabliert wird. Es wird mit den Mitteln des Computerspiels darüber nachgedacht, was Spielen ist und welche Rolle es in der Gesellschaft einnimmt.
In diesen Spielen geht es um die Herrschaft der Maschinen.
Na ja, Bioshock dreht sich eher um Genmanipulationen, um das Verbessern von Lebewesen durch Gentechnik. Auch die Ideologie des Neoliberalismus spielt eine wichtige Rolle. Bei System Shock übernimmt tatsächlich eine künstliche Intelligenz die Macht. Aber es geht eher darum, wie die Grenze zwischen künstlichem und natürlichem Leben verläuft. Der Spieler nimmt ganz massiv Strukturen einer künstlichen Intelligenz in sich auf.
Man ist letztlich ein Cyborg?
Ja, man hat Module, die man in sich einfügen kann. Mit der Antagonistin – Shodan heißt sie – taucht nicht nur eine mächtige künstliche Intelligenz als Gegenspielerin auf, die etwa die Sicherheitskameras auf der Raumstation oder dem Raumschiff kontrolliert. Sondern der Spieler ist in gewisser Weise gar nicht so anders als dieses böse Programm. Er „wettrüstet“ mit ihm.
Ego-Shooter verbindet, dass sie blutig und gewaltsam sind.
Das würde ich nicht so sehen. First-Person-Shooter können wie Counterstrike auch taktisch sein. Manche Computerspiele sind gewalttätig, ohne blutig zu sein: Psychothriller etwa. Krimis im Fernsehen sind häufig nicht weniger gewaltsam als Computerspiele. Es kommt auf das Spiel an: Auch Half Life ist nicht besonders blutig, selbst wenn es damals indiziert und mit Robotersoldaten besetzt worden ist. Manche sind so abgehoben und artifiziell, dass man gleich sieht: Ich spiele hier ein bestimmtes Genre, einen Klassiker. Gewalt ist nicht gleich Gewalt. Es kommt darauf an, wie sie dargestellt wird.
Ob sie mit bestimmten Genres –wie dem Horrorgenre – spielt?
Ja, ob sie voyeuristisch vermittelt wird oder nicht. Auch Horrorfilme sind nicht immer voyeuristisch. Der Erfinder des Zombie-Films, George Romero, der 2017 gestorben ist, hat zwar blutige Filme gemacht. Aber seine Filme drehten sich nicht um Voyeurismus der Gewalt, sondern um eine Reflexion gesellschaftlicher Missstände.

Foto: Ben Klib für der Freitag
Philosoph der Alltagsästhetik
„Randständige Gebiete“ der Ästhetik würden ihn interessieren: Daniel Martin Feige, geboren 1976, studierte erst Jazzpiano in Amsterdam, dann Philosophie, Germanistik und Psychologie in Gießen und Frankfurt am Main. Feige lehrt derzeit an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart Philosophie und Ästhetik. Der 42-Jährige promovierte zur philosophischen Kunsttheorie in Frankfurt am Main und habilitierte sich 2017 an der Freien Universität der Künste in Berlin.
2015 erschien im Suhrkamp Verlag sein Buch Computerspiele. Eine Ästhetik. Er untersucht darin rund 180 Games der vergangenen Jahrzehnte auf ihren Kunstcharakter. 2018 gab Feige im Metzler Verlag einen Sammelband zu Computerspielen heraus, der sich unter anderem mit Ethik und Games beschäftigt. Seine Forschung war auch von privatem Interesse an Computerspielen motiviert: Seit seiner Jugend spielt Feige Games, vor allem Fantasy- und Strategiespiele, die heute als Klassiker gelten. Im Rahmen zunehmender Studiengänge im Bereich Games Studies entwickelte Feige seine philosophische, nicht unumstrittene Sicht auf Computerspiele.
Er veröffentlichte zudem viel beachtete Schriften zu Design und zur Jazzmusik (beide Suhrkamp, 2014/18). Aktuell arbeitet er an einem Buch zur Philosophie des Horrors.
Welches ist Ihr Lieblingsspiel?
Die Jagged-Alliance-Reihe hat mich immer wieder begeistert. Das ist eine Taktik-Spielreihe, die auf einer fiktiven Insel spielt. Man muss die Insel mit Söldnern befreien. Das hat eher was mit Schach als mit Rumballern zu tun.
Kann man als Spieler Teil des Kunstwerks werden?
Das hängt vom Spiel ab. Manche sind in ihrer Struktur sehr offen, sogenannte Open-World-Spiele, wie Oblivion. In den offeneren Spielen könnte so etwas wie eine Co-Autorschaft existieren. Dann gibt es Spiele, da wird man wie auf Schienen durch das Spielgeschehen geführt. Man antwortet nur auf die Strukturen des Spiels.
Ist Gaming gefährlich? 2018 wurde Computerspielsucht von der WHO als Krankheit eingestuft.
Ich frage mich, warum Filmsucht dann nicht auch anerkannt ist. Oder Binge Watching, exzessives Serienschauen? Natürlich haben manche Computerspiele bedenkliche Spielmechanismen: Einige Online-Rollenspiele und viele Handyspiele sind letztlich dazu da, den Leuten dasGeld aus der Tasche zu ziehen.
Wie ist das mit dem Kunstbegriff von Games vereinbar?
Exzessives Spielen ist eine Art von Missbrauch des Spielens. So, wie manche nur noch fernsehen oder nur noch Musik hören. Aber das Wesen des Computerspiels besteht nicht darin, dass es süchtig macht.
Es gibt Handygames, da kann man mit echtem Geld eingreifen.
Ja, das hat sich auch in Mainstreamspielen durchgesetzt: Da gibt es mittlerweile sogenannte Lootboxes, virtuelle Güter gegen Echtgeld. Das sind Strukturen, die eine Glücksspiellogik haben – und die sind problematisch. Auch bei Online-Spielen wie World of Warcraft sehe ich ein Problem. Solche Spiele animieren Spieler, viel Zeit und viel weiteres Geld in das Spiel zu stecken.
Was lernt man beim Spielen?
Man erwirbt Fähigkeiten, die mit dem Spielen selber zusammenhängen. Wenn man einen First-Person-Shooterspielt, dann beherrscht man danach bestimmte Koordinationsfähigkeiten in dieser Art von Spielen besser. Aber manche Spiele können Wissen vermitteln, so wie es auch Romane und Filme – in anderer Weise – können. Ein Beispiel ist Civilization.
Die Spiele der „Assassin’s Creed“-Reihe werden für ihre historische Exaktheit gelobt.
Der erste Teil der Assassin’s-Creed-Reihe spielt im Mittelalter und sah durchaus toll aus. Es gibt da eine stimmige und spannende Welt zu entdecken. Aber sie ist auch sehr amerikanisiert. Der neue Teil soll sich besser mit historischen Traditionen und Fakten auseinandersetzen. In einem Teil kamen authentische Piratenlieder vor. Und dann gab es ein Spiel, das sich um das alte Ägypten drehte. Da haben die Entwickler sehr gut recherchiert.
Welche der sogenannten Serious Games finden Sie gut?
This War of Mine ist eine Überlebenssimulation in Kriegszeiten und dabei sehr drastisch. Das vermittelt zwar nicht Bildung im Sinne von Handbuchwissen. Aber es ist ein Spiel, das sich mit seinem eigenen Medium auseinandersetzt und etwas transportieren will.
Was denn?
Das Interessante bei Spielen, wenn sie einen Kunstcharakter haben, ist ja gerade nicht, dass sie zu etwas führen, das man hinterher konkret benennen kann. Ich glaube zwar, dass Kunst etwas mit Bildung zu tun hat. Aber es geht um eine Bildung unbestimmter Art, nämlich um eine Auseinandersetzung mit uns selbst, die aber nicht zu einem verwertbaren Wissen führt. Darin besteht für mich die Autonomie der Kunst.
Computerspiele werden jetzt in Museen ausgestellt.
Ja, Games werden mitunter auch als Kunstprodukt gewürdigt, natürlich findet man sie eher in Designmuseen oder in solchen für angewandte Künste. Es gibt ja auch das Computerspielemuseum in Berlin. Aber nicht alles, was im Museum steht, ist Kunst: Vieles wird einfach als Teil der Alltagskultur gezeigt. Wären Games völlig akzeptiert, würde man weniger abwertend über sie sprechen, als die meisten Leute das tun.
Games und Gamer werden oft stigmatisiert?
Ja, viele halten sie für niedere Genres, die merkantil oder kurzlebig sind. Oder eben gefährlich. Aber dieser Blick ändert sich gerade. Wenn ich hier in Stuttgart Straßenbahn fahre oder in Frankfurt in der U-Bahn sitze, dann sitzen da immer auch erwachsene Leute, Männer und Frauen, die mit ihren Handys Spiele spielen. Es ist nicht mehr so wie in den 1980er Jahren, ein nerdiges, männliches Hobby.
Heute spielen sogar Senioren.
Silver Gamer, Menschen über 50, sind mittlerweile die größte Zielgruppe. Manche fordern jetzt Spielkonsolen in Altersheimen. Wenn man eine alte Spielkonsole in ein Altenheim stellt – vielleicht noch eine Wii-Konsole mit Bewegungssensoren – und die auch genutzt wird, dann tun die Leute dort etwas gemeinsam und bewegen sich dabei. Man könnte aber auch sagen: Sie werden kaltgestellt, indem sie vor ein Medium gesetzt werden.
Wenn es für Kinder nützlich ist, warum dann nicht für Alte?
So sozial manche Spiele auch sind, es gibt Formen des Spielens, die verhindern, dass man in soziale Zusammenhänge integriert ist.
Alte würden eher isoliert?
Das kommt darauf an, wie diese Spiele eingesetzt werden – integrativ und anerkennend oder eben bloß als Mittel der Verwaltung von Menschen.
Ballerspiele und Pflegeroboter, ist das die Zukunft?
Im Lichte der letzten Bemerkungen wäre das eher ein Schrecken als ein Grund zur Freude. Aber es kommt darauf an, wie wir es gestalten.
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