Kompetente Planlosigkeit

Volkspartei Angela Merkel hat den Raum zwischen Status Quo und Veränderung für sich entdeckt. Die Landespolitik scheint sich diesem Zustand des Vor-sich-hin-Vibrierens anzupassen

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In der vermutlich letzten Legislaturperiode steht Angela Merkel auf dem Zenit ihrer Macht. Die einst starke FDP? Nahezu von der Bildfläche verschwunden, zerschmettert... Läuft mittlerweile unter "Sonstigen". Die einst stolze SPD? Im Umfragetief. Trotz Mindestlohn. Und die einst rebellischen Grünen? Ziemlich bieder. Ziemlich Kretschmann. Es scheint so, als habe die notorisch nüchterne Pragmatikerin aus der Uckermark die bundespolitische Vormachtstellung der Christdemokraten auf Jahre zementiert. Die CDU ist wieder Kanzlerwahlverein.

Der Antipolitikansatz, das Schleichen in Trippelschritten, dieses chronisch unaufgeregte Gewurstel verfängt bei einem Großteil der Bürger. Angela Merkel betreibt Bundespolitik wie auf dem Verkehrsübungsplatz. Kupplung kommen lassen, leicht aufs Gas und dann schnell wieder bremsen. Obgleich der vielfach geäußerte Vorwurf einer zunehmenden Sozialdemokratisierung der Union nicht gänzlich von der Hand zu weisen ist, so verkörpert Merkel dennoch die perfekte Konservative. Sie hat den Raum zwischen Status Quo und Veränderung für sich entdeckt. Scheinbar ständig in Bewegung und doch kommt man nicht wirklich von der Stelle. Über 40 Prozent der Wähler fühlen sich wohl in diesem Zwischenraum. Und doch bleibt die Frage: Wie lange passt dieser Ansatz zum Land?

Tillich statt Koch, Langeweile statt Polarisierung

Eigentlich wäre es ein Euphemismus, würde man dieses Phlegmatische als wahrhaft revolutionär bezeichnen. Und doch scheint sich die Landespolitik sukzessive diesem Zustand, oder besser diesem Vorsichhinvibrieren, anzupassen. Die Riege der Ministerpräsidenten wird heute von Erscheinungen dominiert, die sich eher als fleißige Verwaltungsbeamte verstehen denn als volksverbundene Visionäre. Der Landesvater ist heute der erste Buchhalter. Echte Typen sind nicht mehr gefragt. Sie ereilte früher oder später das berüchtigte Dinosaurierschicksal. Koch ging, Oettinger wurde gegangen und Mappus abgewählt. Und bei der SPD? Auf den Dauerumarmer Platzeck folgte der bodenständige Woidke. Auf den nüchternen Ringstorff folgte der graue Sellering. Auf den väterlichen Carstensen der Bürokrat Albig. Charme, Glamour, Volksnähe? Fehlanzeige! Partygänger Wowereit hatte erkennbar keine Lust mehr und plant den Rückzug. Pfalzgraf Beck hat den schon lange hinter sich.

Hajo Schumacher, einer der frühen selbsternannten "Merkelversteher", beklagte sich zuletzt in einem Beitrag für die "Welt am Sonntag" in sehnsuchtsvoller Verzweiflung über das Fehlen des Glamourfaktors in der deutschen Politik. Leider ist momentan mit einiger Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sich daran so schnell nichts ändern wird. Aktenmappe statt Champagnerglas.

"Die Kanzlerin hält sich bedeckt"

Prototypisch manifestiert hat sich Merkels Trippelschrittdoktrin in ihrem Sprecher Steffen Seibert. Regelmäßig lädt dieser die versammelte Hauptstadtpresse zu wahren Sitzfleischmarathons. Das Drehbuch pflegt dabei stets demselben Muster zu folgen. Mehr oder weniger präzise Journalistenfragen wechseln sich mit inhaltsarmen (oder: -leeren) Dreiminutenfloskeln ab. "Die Kanzlerin hält sich alle Optionen offen." "Nein, im Kabinett gibt es hierzu noch keinen einheitlichen Standpunkt". "Der Diskussionsprozess hat gerade begonnen." Manchen Journalisten kann man damit in den Wahnsinn treiben. Ohnehin ist die Wahrnehmung einer merk(el)würdigen Asymmetrie ausgesetzt. Denn die Bürger finden die Kanzlerin ganz prima. Ihre Popularitätswerte halten sich schon seit geraumer Zeit in der Spitzengruppe. Gibt es also einen vernünftigen Grund daran etwas zu ändern?

Berlin ist nicht Brüssel!

Den gibt es! Wahrlich. Die bereits erwähnte Asymmetrie der Wahrnehmung merkelscher (Anti-)Politik besteht nämlich offenkundig nicht nur im Lande selbst, sondern in zunehmend besorgniserregendem Ausmaß auch in Europa und der Welt. Während der Eurokrise trat Merkel in ihrer Paraderolle als Vermittlerin auf. Willkommener Nebeneffekt: Man muss sich selbst nicht positionieren. Man kann vibrieren. Im Zwischenraum. Die weltpolitischen Umwälzungen von der Ukraine bis Syrien haben diesen Raum jedoch beträchtlich verkleinert. Gerade die europäischen Nationen wie auch die USA drängen Berlin zu klareren Positionen. In Polen und den baltischen Hauptstädten ist die Verärgerung über den unsicheren deutschen Kantonisten nicht mehr zu verbergen. Und Merkel reagiert. Italien und Frankreich sollen wieder wachsen - aber vor allem sparen. Die Balten müssen vollen NATO-Schutz genießen - aber bitte ohne deutsche Waffen. Die IS-Barbaren müssen entschieden bekämpft werden - aber bitte ohne direkte deutsche Beteiligung. Und Russland verhält sich ohne Zweifel verbrecherisch - aber die Gesprächskanäle müssen offen bleiben. Die Kanzlerin hat sich positioniert. Im Zwischenspalt.

Nur: Die Außenpolitik ist kein Verkehrsübungsplatz!

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