Vielleicht musste er erst von der Kirche suspendiert werden, um wirklich Priester zu sein. Vielleicht musste er erst rausfliegen, um zu merken, was ihm vorher gefehlt hatte. Christoph Schmidt schaut zu seinem Partner, Norbert Reicherts, während er über den Schritt nachdenkt, der sein Leben grundlegend veränderte. Als wolle er sich versichern, dass er mit seinen Gedanken nicht allein ist.
Die beiden sitzen in ihrem Wohnzimmer, es ist bürgerlich eingerichtet, mit viel dunklem Holz und sakraler Kunst an den Wänden, eine Jungfrau-Maria-Statue schaut einen an. Schmidt und Reicherts sind seit 15 Jahren ein Paar. Doch eigentlich fühle es sich nach schon viel länger an, sagt Schmidt. Beide haben die wohl schwierigste Phase ihres Lebens gemeinsam durchlebt.
Vor dreizehn Jahren erklären sie als katholische Priester ihren Bischöfen in Essen und Paderborn, dass sie homosexuell sind und ihre Sexualität auch leben. Die katholische Kirche suspendiert beide von ihren Ämtern und schließt sie aus. Norbert Reicherts und Christoph Schmidt passen nicht ins Raster. Die Geschichte der zwei Priester zeigt auch, wie sie daran scheiterten, Rom vom Ruhrpott aus zu revolutionieren. Nicht mit Reformvorschlägen und Initiativen, sondern aus dem Untergrund. „Wir wollten damals kündigen“, sagt Reicherts. Der Druck sei unerträglich gewesen. „Aber die Kirche lässt nicht zu, dass man selbst kündigt. Deshalb haben unsere Bischöfe uns rausgeschmissen. Es sollte nicht so aussehen, als wollten wir ohnehin gehen.“ Reicherts, 48, trägt die blonden Haare zurückgekämmt, ein dünnes Bärtchen wächst um Mund und Kinn. Er wägt seine Sätze sorgfältig ab. Sein Partner, rotumrandete Brille, Ziegenbärtchen, ist weniger zurückhaltend, er sagt Sätze wie „vom Typ her bin ich Kölner“, dann lacht er laut.
Der Kampf der beiden beginnt Ende der achtziger Jahre. Schmidt und Reicherts sind junge Geistliche in Paderborn und Dortmund. Schmidt arbeitet als Seelsorger in einer Klinik, Reicherts hat eine Pfarrgemeinde. Während Reicherts schon vor und auch nach seiner Priesterweihe heimlich schwul lebt, macht Schmidt eine Entwicklung durch. Zwar weiß er schon lang, dass er Männer liebt, aber er unterdrückt seine Sexualität. „Ich war im Prinzip immer konservativ, das war mein Halt“, erzählt er. Den Verzicht auf das Ausleben seiner sexuellen Neigung habe er als sein „Opfer an Gott“ angesehen. Was aber nach seiner Weihe kommt, nennt er ein „Überholmanöver“. Er habe die Kirche „links überholt“. Seine Einstellungen hätten sich verändert, der Wunsch, authentisch zu leben, sei größer geworden.
Eine verbotene Debatte
Mit der Zeit merken die beiden, die sich damals noch nicht kennen, dass sie nicht die einzigen verdeckt schwul lebenden Priester sind. Sie gründen eine Untergrundorganisation schwuler katholischer Priester mit, werden Sprecher ihrer Ortsgruppen und lernen sich bei einem Treffen kennen. Sie verlieben sich und leben ein Jahr zusammen in Reicherts’ Pfarrhaus in Dortmund.
Ihre Organisation vernetzt schwule Priester in ganz Deutschland und versucht, die Debatte über Homosexualität und Kirche öffentlich zu führen. Eine Debatte, die für die meisten Bischöfe gar nicht existieren darf. „Das war eine spannende Zeit, eine Aufbruchstimmung, Konspirativität“, erinnert sich Schmidt. Die Priester treffen sich heimlich „im Untergrund“ oder abends beim Bier im Pfarrhaus. Dort können sie offen sprechen.
Markus S. erinnert sich daran, wie die Vernetzung homosexueller Priester in Deutschland begann: „Die Initiatoren waren sehr mutig damals“, sagt er, der selbst kirchlich angestellt ist und seinen Nachnamen deshalb nicht in der Zeitung lesen will. Markus S. ist bei der ökumenischen Organisation „Homosexuelle und Kirche“ („HuK“) für katholische Fragen zuständig. „Viele Bischöfe wollten wie ein Spürhund herauskriegen: ‚Wer ist denn nun schwul in meinem Bistum?‘ Das war ziemlich unschön.“
Wie groß der Bedarf nach Austausch gewesen sein muss, lassen Studien erahnen, in denen von 25 bis 40 Prozent homosexueller Priester ausgegangen wird. Auch in der versteckten Organisation von Schmidt und Reicherts werden es schnell mehr. Am Ende zählt sie knapp 200 schwule Priester als Mitglieder, aus allen 27 Bistümern Deutschlands. Gemeinsam schreiben sie Pressemitteilungen an die Katholische Nachrichtenagentur, um den konservativen Texten ihrer Bischöfe Kontra zu geben. Sie versuchen, eine inoffizielle Gemeinde in der Gemeinde aufzubauen. Als Schmidt und Reicherts 1998 aus der Kirche geworfen werden, zerfasert auch ihre Bewegung.
Wenn Schmidt sich nun an diese Phase erinnert, ist es, als schaue jemand in sein altes Familienalbum. Schmidt blättert durch dicke graue Leitz-Ordner, die er aus dem Regal zieht, er zeigt ein anonymisiertes Interview in einer Regionalzeitung. „Ach du meine Güte, Peter G., das war ich.“ Innerlich zitternd habe er diese Interviews gegeben, immer mit einem Ziel: „Irgendwann in ein paar Jahren sollten 300 Priester auf der Kanzel sagen: Ich bin schwul, Gott sei Dank!“
Dieses Radikal-Outing scheint heute noch naiv und illusorisch. Aber wenn Schmidt von seinem einstigen Traum erzählt, dann wirkt er sehr überzeugend. Und wie sonst sollte eine wirkliche Veränderung gehen? Wie sonst sollte man die schwerfälligen Strukturen der katholischen Kirche bewegen? Schmidt hat lange ein Doppelleben geführt, und wenn er heute von der „Befreiung“ spricht, die der Ausstieg für ihn bedeutete, dann ahnt man, wie es ihn zermürbt hat. Einerseits.
Andererseits spürt man die Verbitterung darüber, dass er suspendiert wurde – und alle anderen einfach weitermachen, als wäre nie etwas geschehen. Viele Priester lebten schwul und betrieben ein ewiges Versteckspiel, weil sie sonst sein Schicksal teilen müssten, sagt Schmidt. Zu nur wenigen ehemaligen Kollegen haben die beiden heute noch Kontakt. Viele wollen nichts mehr mit dem Paar zu tun haben, seit es sich geoutet hat. Womöglich aus Angst davor, mit ihnen in Verbindung gebracht zu werden. Oder auch aus Neid, gespeist aus dem Leiden an der eigenen oft schizophrenen Lebenssituation.
Manchmal, wenn er ehemalige Kollegen trifft, packt Schmidt die Wut. Er denkt dann an die alte Mitgliederliste der Priestervernetzung, die noch bei ihm zu Hause liegt. Warum nicht einfach alle outen, auf einen Schlag, fragt er sich in diesen Momenten.
„Kommen Sie, wir zeigen Ihnen unsere eigene Kapelle“, wechselt er das Thema. Die beiden führen in einen kleinen Bungalow in ihrem Garten, eine ehemalige Sauna, die sie umgebaut haben. Die Wände sind weiß, auf dem hellen Holzboden liegen bunte Wolldecken, auf denen hölzerne Betschemel im Kreis stehen. Schmidt und Reicherts beten gemeinsam, jeden Morgen, jeden Abend. Im Zentrum des Raumes ist ein kleiner Altar mit Miniaturspringbrunnen aufgebaut, es wirkt improvisiert.
In Ostheim, einem Kölner Viertel mit vielen grauen Häusern und kleinen Vorgärten mit Jägerzäunen, gründeten die beiden Priester ihre eigene kleine Kirche, als sie den Ausschluss aus der Kirche einigermaßen verarbeitet hatten. Sie soll ein „Zentrum für praktische Theologie und Seelsorge“ sein. In den vergangenen zehn Jahren kamen rund 400 Menschen hierher.
Sie haben in ihrem Zentrum einen türkischen Moslem mit einer italienischen Christin getraut. Natürlich ohne offiziellen Trauschein, eher eine Art privater Segen. Die beiden beraten hier außerdem befreundete schwule Priester im Umgang mit der Kirche, sie veranstalten Beerdigungen und Taufen (auch wenn diese nicht amtskirchlich anerkannt werden), Exerzitien und Gesprächskreise. Einmal in der Woche feiern sie in ihrer Kapelle einen Gottesdienst, zu dem dann ein paar Leute kommen.
Buddhisten und Atheisten
Man könnte Schmidt und Reicherts vorwerfen, dass sie mit ihrem Outing den Kampf aufgegeben haben, innerhalb der katholischen Kirche etwas zu verändern. Dass sie den Weg des geringeren Widerstandes gewählt haben. Sie haben nun den Ort gefunden, an dem sie ehrlich leben können. Aber hätten sie als amtskirchliche Priester nicht mehr ausrichten können?
Markus S. von der ökumenischen HuK bezweifelt das. Die Entscheidung, auszusteigen, sei eine sehr persönliche: „Viele sind nicht mehr bereit, ein Doppelleben zu führen und all die Restriktionen hinzunehmen“, sagt er. Von außen könne man sich außerdem viel offener äußern. Er als Schwuler in der Kirche merke, wie vorsichtig er immer sein müsse.
Schmidt und Reicherts wollen nun eine offene Kirche vorleben: „Wir wollen keine institutionellen Barrieren, zu uns soll jeder kommen können“, sagt Reicherts. Und so kommen die verschiedensten Menschen: erzkatholische Rheinländer, Buddhisten, Atheisten auf der Suche nach Spiritualität. Viele von ihnen seien von der Kirche enttäuscht durch die starren Vorschriften, aber in letzter Zeit auch durch die Missbrauchs-Skandale. Dass die Kirche in der Krise stecke, sei nicht mehr zu übersehen. Das müssten die Verantwortlichen endlich begreifen. „Autoritäten und Gängelung durch Macht und Unterdrückung helfen niemandem. Die Kirche muss versuchen, die Menschen zu begleiten und auf sie zuzugehen“, sagt Reicherts.
Er und Schmidt verweisen darauf, dass auch andere Reformvorschläge machen, etwa mit dem Memorandum „Kirche 2011: Ein notwendiger Aufbruch“. Die mehr als 250 Theologen, die es mittlerweile unterzeichnet haben, fordern angesichts der Krise der Kirche grundlegende Reformen: unter anderem die Abschaffung des Pflichtzölibats und die Zulassung von Frauen zu kirchlichen Ämtern.
„Ich glaube, dass irgendwann die Not der Kirche so groß sein wird, dass daraus eine Krise entsteht. Das wird zu großen Auseinandersetzungen führen“, sagt Schmidt. Er hat Kontakt zu den Initiatoren des Memorandums aufgenommen, den Menschen zu ihrem Mut gratuliert und Unterstützung angeboten. „Denn das, was sie gemacht haben, ist nicht irgendetwas – die spielen mit ihrer Existenz.“ So wie er es sagt, klingt es, als würde das Memorandum auch Schmidt und Reicherts nachträglich noch einmal bestärken: in ihrer Entscheidung, ein neues und ehrlicheres Leben zu beginnen.
Sebastian Kempkens, 22, machte sein Abitur an einer katholisch-erzbischöflichen Schule in Bonn seitdem hatte er mit Kirche nicht mehr viel zu tun
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