Sie werden gesprochen

Abwesend Drei Bücher über Elfriede Jelinek, die am 20. Oktober 60 Jahre alt wird

Sie sei einmal, so erzählt es eine Freundin, in einem Stadtbus voller älterer Leute durch Berlin gefahren. Der Bus musste länger an einer Baustelle warten, einem Ort, an dem früher oft studentische Demonstrationen stattgefunden hatten und an dem es dadurch häufig zu Staus gekommen war. Als es auch diesmal wieder zu einem unerwünschten Halt kam - wenn auch aus völlig anderem Grund - begann ein Gespräch zwischen den Fahrgästen, das von dem Ärger über die Baustelle zu den demonstrierenden Studenten hüpfte, von dort zur allgemeinen politischen Lage sprang und sich schließlich in Äußerungen ergoss, dass solche Demonstranten in Arbeitslager gesteckt oder sogar vergast gehörten.

Die kleine Straßenszene birgt das Modell eines Sprechens, das in Elfriede Jelineks Schreiben in entstellter, deformierter, der naturalistischen Szenerie entbundener Form wiederkehrt. Als uferloser Sprachstrom hat es sich in ihren Texten verselbstständigt, ist immer dichter und reißender geworden und ruiniert die Kategorien, mit denen man diese Texte oft hilflos oder wütend einzuordnen versucht, jedes Mal aufs Neue. Eine unkontrollierbare Sturzflut an Sprache, die dem Typus mündlicher Rede entspricht und - wie das Busgespräch - weniger einer kausalen Logik als der der Assoziation gehorcht. Das Triviale mit all seiner Gewalt kann in dieses Sprechen eingehen, der Kalauer, Wortmüll, Geschwätz, aber auch Satz- und Gedankenreste aus Kunst, Philosophie, Theorie. Vor allem übersteigt dieses Sprechen den Einzelnen, lässt ihn nicht die souveräne Autorschaft über seine Sprache behaupten, so wie das Busgespräch seine Sprecher übersteigt, quasi aus und über ihre Köpfen springt, sich ausbreitet und dabei den Weg von der Baustelle zum Vergasen findet. Diese Fahrgäste sprechen so wenig, wie sie denken. Sie werden gesprochen, immer schon Vorgesprochenes, Zitiertes, durch tausend Münder Gegangenes kommt aus ihnen. Und je widerstandsloser sie sich dem einerseits ergeben, je mehr sie andererseits glauben, selbst zu sprechen, desto verheerender sind die politischen Folgen. Verheerungen, die den illusionslos in den Blick genommenen (Ab-) grund der Texte Jelineks bilden.

Nun gibt es aber nicht einfach einen Ort außerhalb dieses sprachlichen Zusammenhangs. Wer nicht stumm bleiben will, kann gar nicht anders als in Zitaten sprechen, weil er sich notgedrungen in einer Sprache bewegt, die als schon gesprochene durch ihn hindurchgeht. Wo allerdings diese Zitathaftigkeit vergessen gemacht wird, entstehen Mythen. Etwa der des Autors, der individuell über "seine" Sprache und Gedanken zu verfügen vorgibt und dessen abgeschlossener Gestalt man nicht mehr ansieht, wer für die ihm zugeschriebenen Gedanken geschwitzt hat, wer für die Sprache, die als Eigentum auftritt, enteignet wurde. Diesem Mythos arbeitet Jelinek beständig entgegen, indem sie den Medien, wo sie ein eindeutiges Bild der Autorin zeichnen wollen oder nach "authentischer" Aussage gieren, in einem ironischen Spiel begegnet. Dabei tritt sie in verschiedenen Rollen auf, als Radikalfeministin, depressive, autoaggressive Psychotikerin, Domina oder pornographische Skandalautorin. Und entzieht sich als beglaubigende Instanz ihrer selbst doch immer wieder - wie im Fall ihrer Nobelpreisrede "Im Abseits", die nur als Video präsentiert wurde: "Die Autorin ist weg, sie ist nicht der Weg". Was damit wegfällt, ist die Möglichkeit, die Texte auf Thesen, Meinungen oder gar psychologische Bedingtheiten der Autorin zu reduzieren.

Das alles ergibt eine Mischung, die offenbar immer wieder als so unerträglich empfunden wird, dass es kaum eine Beleidigung geben dürfte, mit der Jelinek noch nicht belegt worden ist. Ihr Kampf mit jenem Österreich, das seine Vergangenheit so wenig wahrhaben will wie seine Gegenwart, ist dabei selbst schon wieder zum Mythos geworden. Diesmal ist es der Mythos der notorischen Österreichkritikerin, hinter dem die konkreten Konflikte, in denen Jelinek stand und steht, unsichtbar zu werden drohen. Umso dankenswerter ist darum der Band Jelinek Österreich. Die Nestbeschmutzerin von 2002, in dem die Germanistin Pia Janke mit Studierenden auf 250 Seiten die Geschichte dieses langen Kampfes mittels Zeitungsartikeln, Jelinek-Texten, Interviews oder den Schmutzkolumnen der österreichischen Kronenzeitung dokumentiert.

Freilich ist das Problem der vom "gesunden Volksempfinden" bestimmten Öffentlichkeit (Janke) nicht auf Österreich beschränkt, wie sich zuletzt nach dem Nobelpreis 2004 zeigte. Dabei liegt das Erschreckende weniger in den vorhersehbar brutalen Attacken in Blättern wie Bild, sondern vielmehr in der gedankenfreien Häme, mit der die Preisträgerin in Spiegel über die Süddeutsche bis zur Welt von den Leuten übergossen wurde, die als "Kultursachverständige" auftreten. Ein weitverbreitetes, blamables Unverständnis dessen, was Literatur - und politische zumal - sein könnte, kam da zum Vorschein, wo zugleich der Betrieb ihr Vorhandensein permanent simuliert. Ein Unverständnis, das leider auch eine neue Jelinek-Biographie von Verena Mayer und Roland Koberg kennzeichnet: Unseriös wie die Klatschpresse schieben die beiden biographische Fakten mit Verhaltensweisen der Romanfigur Erika Kohut, der Klavierspielerin, ineinander. Zu Jelineks Theateressays fällt ihnen nur ein, dass die Autorin "eine Abneigung gegen schwitzende Körperlichkeit" hege. So triviale Sätze stehen in diesem Buch, dass sie schon wieder Material für ein Jelinek-Stück bieten könnten.

Diese Oberflächlichkeit verdeckt, wie genau Jelinek nach den Opfern gesellschaftsstiftender Mythen forscht. Nach dem Preis, den es kostet, etwa als berühmte Schriftstellerin oder Musikerin zur Ikone, zur "Prinzessin" zu werden. Oder nach den Lügen des Alpinismus, dessen scheinbar unschuldige Naturseligkeit den Tod von 155 Menschen in einer Gletscherbahn nur als "Unfall" begreifen kann, nicht aber als Teil einer langen Folge gesellschaftlich und industriell hergestellter Katastrophen. Den Reichtum von Jelineks Texten erweist hingegen die Studie Theater des Nachlebens der Literaturwissenschaftlerin Evelyn Annuß, die sich ausführlich mit drei älteren Stücken beschäftigt. "Wer spricht?", jener Frage, die der bürgerliche Autor sich immer nur mit "Ich" beantwortet und die ein Angelpunkt von Jelineks Mythenkritik, nähert Annuß sich anhand der rhetorischen Figur der Prosopopoiia, die vor allem zwei Funktionen hat: Erstens ist sie ein Mittel, um eine vielstimmige Rede oder ein Kollektiv zu personalisieren, ihnen ein repräsentatives Gesicht zu verleihen. Und zweitens lässt sich mit ihr die (Wieder-)belebung von etwas Totem, Abwesendem vortäuschen. Dabei erlaubt sie freilich dessen beliebige ideologische Besetzung. So lassen sich Kriege führen im Namen von Opfern, die in der nachträglichen Darstellung von "Einzelschicksalen" repräsentiert werden - Oliver Stones World Trade Center ist das jüngste Beispiel einer Darstellung, die auf der Prosopopoiia beruht.

Die Prosopopoiia ist so exakt das Mittel der Mythisierungen, gegen die Jelineks Sprache, die den Einzelnen übersteigt, angeht. Sie liegt aber auch dem bürgerlichen Drama zugrunde, in dem gesellschaftliche Diskurse auf scheinbar geschlossene Einzelfiguren verteilt und diese nachahmend "verlebendigt" werden. Wie Annuß´ spannende Lektüre zeigt, untersucht Jelinek das ideologische Potenzial dieser Form schon in ihrem ersten, oft unterschätzten Stück Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte (1979). Die Fortführung des Ibsen-Dramas wird lesbar als Versuch über die "Fortsetzung des bürgerlichen Dramas im Feld des Politischen", der die Grenzen jener Perspektive aufzeigt, die sich im Namen "der Frau" auf die personalisierende Darstellung eines angeblichen Kollektivs beruft.

Zum Theater der Prosopopoiia gehört ein Schauspielertypus, der "Natürlichkeit" als Einheit einer geliehenen Sprache mit seinem Körper behauptet. Für ihn gilt ähnliches wie für den Autoren, der seine Gestalt abzuschließen sucht: Wo er tut, als seien die aus ihm kommenden Worte als spontane, "authentische" Rede sein Eigentum, wird er mythisch. Burgtheater, das zweite von Annuß untersuchte Stück, das 1982 Jelineks Ruf als "Nestbeschmutzerin" begründete, verhandelt die Komplizenschaft des so hervorgebrachten "Natürlichkeitsschleims" (Jelinek) mit den Darstellungsmodi des Faschismus. Im Mittelpunkt steht die lang verleugnete NS-Rolle der Burgtheaterikone Paula Wessely, etwa ihr Mitwirken in Heimkehr, einem der schlimmsten Propagandafilme. Auch hier geht es um das Gesichtverleihen: Die zentrale Szene von Heimkehr zeigt in Großaufnahme Wesselys Gesicht, aus dem die beschwörende Rede kommt, wie es sein wird, heimzukehren, "und nicht, wenn du in einen Laden reinkommst, dass da einer jiddisch redet, oder polnisch, sondern deutsch".

Annuß´ detailreichste Lektüre gilt Wolken.Heim, jenem Theatertext, in dem Jelineks Sprachflut sich endgültig als "unabsehbares Raunen" entkoppelt, das sich hier als komplexes Soundgefüge entstellter Zitate von Hegel, Fichte, Heidegger, Hölderlin, der RAF, aber auch von Benjamin und Celan entziffern lässt. Akribisch geht Annuß diesen Stimmen, Gegenstimmen und ihren Bezügen auf die Verfasstheit eines Wir nach, ob es nun als biopolitisch auszurichtender Volkskörper oder idealistische Nation gedacht wird. Was Theater des Nachlebens so zeigt, sind die Texte einer Dichterin, die wie keine zweite unsere Gegenwart aufschreibt. Texte freilich, die in doppeltem Sinn trostlos herumstehen in einer Landschaft medialen Vergessens: Weil sie den Trost medialer Alimentierung verweigern, nach dem eine immer weniger sich begreifende Gesellschaft dürstet. Aber auch, weil es - so drückt es die Theaterwissenschaftlerin Ulrike Haß aus - seit Einar Schleefs Tod keinen Regisseur mehr gibt, der Jelineks Texten auf der Höhe begegnen könnte, auf der sie geschrieben sind. Es sind Texte, die auf Geschichte warten. Und es ist sehr viel Geschichte, die in diesen Texten wartet.

Evelyn Annuß: Elfriede Jelinek. Theater des Nachlebens. Fink, München 2005, 278 S., 39,90 EUR

Pia Janke: (Hg.) u. StudentInnen: Die Nestbeschmutzerin. Jelinek Österreich. Jung und Jung, Salz burg/Wien 2002, 252 S., 39,50 EUR

Roland Koberg u. Verena Mayer: Elfriede Jelinek. Ein Porträt. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2006, 328 S., 19,90 EUR


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