Intellektuelle Halbwelt

Eventkritik Wie salonfähig sind Körperbemalungen? Clemens Meyer liest in Berlin aus einer Tattoo-Anthologie. Das Publikum gibt sich bedeckt

“Das klassische Arschgeweih ist scheiße“, um das Wichtigste mal vorwegzunehmen. Hingespuckt hat das charmante Urteil Clemens Meyer, Rotzbengelschriftsteller und Vielfachtätowierter, der auf einer Bühne der Berliner „Backfabrik“ an diesem Abend aus einem Buch über Tattoos vorliest.

Der Satz zeigt nicht nur die Meyer’sche Volle-Kraft-voraus-Attitüde; er fasst auch die Erkenntnisse des Abends gebührend zusammen: Möglicherweise sind das einsame Ornament oder der ironische Anker auf dem Oberarm in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Aber richtig harte Jungs finden das doof, in der Hierarchie der Körperkunst steht das Modetattoo ganz unten.

So einfach würde es sich Benedikt Geulen natürlich nicht machen, der andere Mann auf der Bühne und Mitherausgeber von Das Herz auf der Haut, einer jüngst im mare-Verlag erschienenen Anthologie von Tätowierungstexten. Literaturtauglich sei das Tattoo sowieso, nun sei es auch salonfähig geworden, findet Geulen, bebrillt, strubbelhaarig und untätowiert.

Der Beweis: Bettina Wulff, Bundespräsidentengattin, deren rechten Oberarm ein „Tribal“ schmückt, ein verschlungenes Tattoo, das der Symbolik eines Ureinwohnervolks von irgendwo weit weg entstammt (oder zumindest so aussehen soll). Selbst der in Biederkeit ungeschlagene Präsident findet das angeblich cool.

Statussymbol der Unterwelt

Es ist der vorläufige Höhepunkt eines abenteuerlichen Bedeutungswandels: Anfangs war die Tätowierung das Abzeichen der Seeleute, die seit der frühen Neuzeit Hautmalereien von ihren Fernreisen nach Europa brachten; kaum eine Kultur in Übersee, die sich nicht tätowierte. Die Seemänner zeigten ihre beherzten Arme in halbseidenem Hafenmilieu, und bald wurde die Tatauierung, wie der Völkerkundler sagt, zum Statussymbol der Unterwelt.

Dass das Kassenmädchen vom Sonnenstudio ihren Steiß mit einem, es heißt nun mal so, Arschgeweih verziert, dass auch den baumstammdicken Bizeps ihres Stammkunden tintenfarbiger Stacheldraht schmückt, kurz: dass das Tattoo zur Massenmode wurde, das passierte in den neunziger Jahren.

Auch deswegen ist es 2011 möglich, eine Lesung über Tätowierungen zu veranstalten, ohne dass ein Bärtiger wiegenden Gangs nach vorne käme, um den Neunmalklugen auf der Bühne zu zeigen, was man auf See mit Typen macht, die Wörter sagen wie „Topos“ und „dialogisieren“.

Das passiert in der „Backfabrik“ schon deswegen nicht, weil im Publikum keine Seebären mit illustrierten Oberarmen sitzen. Auch keine grell geschminkten Netzstrumpfträgerinnen oder Ballonhosenmänner mit Vokuhila. Wenigstens jammern aus den Boxen Lale Andersen und das Schifferklavier.

Die Halbwelt bleibt draußen, wenn das Bürgertum über Tattoos schöngeistert. Ist aber kein Widerspruch, bedenkt man die These von der Salonfähigkeit. Im Publikum sitzen also Frauen mit züchtigem Pony und Herren im Oberhemd. Ob sich unterm Stoff Nixen räkeln, Flammen züngeln – wie sehr das Tattoo also in der Bevölkerungsschicht der Lesungsbesucher verankert ist, lässt sich leider nicht ermitteln: Es ist noch kühl abends, nur wenige zeigen nackte Haut. Die sichtbare ist zumindest tintenfrei.

Den Part der Halbwelt übernimmt daher Clemens Meyer, die einzig mögliche Besetzung für diesen Abend, kratziger Bass, ungeschönter Wortschatz, vermutlich von oben bis unten tätowiert, ganz sicher aber unterarmdeckend. Clemens Meyer sagt „hacken“ statt „tätowieren“, und er lacht wirklich nur, wenn es unbedingt sein muss.

Er hat aber auch den Preis der Leipziger Buchmesse gewonnen. Meyer verkörpert das Buch, aus dem er liest: tätowiert, aber intellektuell. Hin und wieder kriecht unter der offenen Manschette seines Hemdes etwas Tintenfarbenes hervor, vielleicht ein Drachenschwanz? Ansonsten bleibt das Thema Tatöwierungen an diesem Abend ein theoretisches.

Die Ärmel unten, lässt Meyer seinem Lästermaul freien Lauf. Davon bleibt auch die Körperkunst-Szene selbst nicht verschont. Mit den „komischen Tattoo-Magazinen“, die ihn gern als Pin-up-Boy hätten, will er jedenfalls nichts zu tun haben. Dann lieber in einem schönen Buch schreiben, pestofarbener Leineneinband, der Schnitt violett, auf dem Einband strebt ein leichtbekleidetes Tattoo-Mädchen himmelwärts. Meyer reibt seine Wange am Werk und befindet, es schmeichele der Haut. Gelächter.

Plath, Kisch, Melville

Innendrin ist das Buch eine Schatzkiste, voller Erzählungen, Romankapitel, Kurzgeschichten von Sylvia Plath, Egon Erwin Kisch, Herman Melville, John Irving. Meyer und Geulen lesen abwechselnd daraus, Meyer eigene Texte, das Vorwort, einen Auszug aus seinem Roman Als wir träumten. Geulen liest Ray Bradburys Zaubergeschichte vom Illustrierten Mann, dessen Tätowierungen nachts zu leben beginnen und den Tod voraussagen können.

Der Herausgeber ist ein facettenreicher Vorleser, der Figur Adam aus Jürg Federspiels Geographie der Lust etwa verleiht er die gebührende Naivität. Die suggestive Kraft der Körperbemalung, das Unheimliche, Magische, Urtümliche (das Kainsmal als Ur-Tattoo), das alles springt einen geradezu an aus dem hübschen Buch.

Über die Rolle der Tätowierung in Deutschland 2011 steht freilich nichts darin: Einer wie Meyer gilt noch immer als Exot. Woher sonst käme die Erregung des Literaturbetriebs über seine verzierten Unterarme? Und wage es erst einer, sagt Meyer, sich gar das Gesicht hacken zu lassen: „Das hat eine ganz andere Ruchbarkeit“.

Fazit: Tattoos sind irgendwie arriviert, aber nur zwischen Buchdeckeln oder unter Hemdsärmeln. Die Freaks bleiben Freaks. Zum Schluss meldet sich ein Zuschauer. Es ist nicht ersichtlich, ob er Bücherwurm ist oder Tätowierter oder beides. Er fragt, wie man auf das Ganze gekommen sei. Tattoos und Literatur hätten doch überhaupt nichts miteinander zu tun.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Sebastian Kretz

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