Piroggen schaukeln über die Neiße

EUROPASTADT Zwischen Nähe und Fremdheit - Görlitz und das polnische Zgorzelec

Das da ist mein Vaterland!", ruft Aneta und zeigt von ihrem Hochhausbalkon über die Neiße hinweg auf die Görlitzer Altstadt. Die Irritation des deutschen Besuchers wird von der jungen polnischen Deutschlehrerin sogleich zerstreut: Das mit dem ›Vaterland‹ sei um Himmels Willen nicht so ernst zu nehmen: "Es ist einfach so: Dort drüben liegt das Herz meiner Stadt." Die Aussicht, die Aneta von hier oben genießt, ist romantisch: Neugotische Zwillingstürme, das schief-geduckte Dächerwerk der Häuser, noch mehr Türme, dazwischen Grün und im Vordergrund der Fluss. Von ihm wird Görlitz, die östlichste Stadt Deutschlands, geteilt. Jener Teil, der sich am Ostufer des Flusses befindet, dort, wo Aneta auf ihrem Balkon steht, trägt heute den Namen Zgorzelec. Er ist polnisch, seit 1945 die Lausitzer Neiße zur neuen Grenze wurde.

Auf der deutschen Seite führt die Neißstraße aus dem "Herzen der Stadt" steil hinab zum Fluss, der sich an dieser Stelle rauschend über ein Wehr bricht. Weit ragt eine Terrasse in den Fluss hinein. Sie gehört zur Vierradenmühle, einem charmanten Lokal, das in eine alte Wassermühle eingezogen ist. Der schwarzrotgelbe Pfahl markiert die Grenze am äußersten Rand der Terrasse. Hier kann man Schnitzel essen und dabei seine Gabel mal eben aus der EU hinaus halten. Dazu der Blick über den Fluss: Bis in seine Mitte hinein balancieren Enten einbeinig im flachen Wasser. Eine Zeile grauer Häuser, die sich längs des Flusses entlang zieht, endet genau gegenüber, am Lokal Dreiradenmühle. Auch dort wurde früher mit Wasserkraft gemahlen, auch dort leuchten heute zur Sommerzeit Sonnenschirme, verweilen Menschen bei einem Kaffee. Die Grenze im Fluss ist ebenso unwirklich wie sie die Wahrnehmung bestimmt. Es ist, als schaute man über seinen Teller hinweg einen Film. Taucht drüben ein Auto auf, klingt das dünne Geräusch seines Motors so fern, als käme es aus einer anderen Zeit. Die Besitzer beider Lokale sind gute Freunde, und wer aufmerksam beobachtete, kann hören, wie sie sich über das rauschende Wehr hinweg etwas zurufen. Vielleicht, dass sie wieder einmal ihre Piroggenschaukel installieren wollen. Zwei-, dreimal im Jahr spannen sie ein Seil zwischen ihren Lokalen und hängen ein Körbchen daran. Damit transportieren sie Speisen über den Fluss, Piroggen zum Beispiel. Die kommen von Polen herüber. Und Crêpes, eine Spezialität des deutschen Lokals, schaukeln zurück.

Bis auf die gesprengten Neiße-Brücken blieb Görlitz von Zerstörungen während des Zweiten Weltkrieges verschont. Es folgte die Grenzziehung und damit die Teilung der Stadt. In den Jahrzehnten danach führten beide Seiten ein völlig eigenständiges Dasein. Beide Teile entwickelten sich zu autarken Kommunen, und zwar in einem Maße, "dass sie sich fremder geworden sind, als es sich für Nachbarn gehört". So formuliert es Ulf Großmann, der Görlitzer Bürgermeister. Um das zu ändern, wurde bereits vor zwei Jahren gemeinsam mit den polnischen Stadtvätern die ›Euro-Stadt‹ ausgerufen. Dies ist Teil einer umfassenden Marketingstrategie, die beide Seiten in die Lage versetzt, "von nun an geschlossen aufzutreten, beispielsweise in Brüssel. Denn eins ist klar", so Großmann, "die Zukunft unserer Grenzstadt heißt ›Europa‹. Wenn Polen in nächster Zeit der EU beitritt, wird die Stadt wieder eins."

Wenn er so etwas hört, schüttelt Ralf Czajkowski heftig den Kopf. Sein "Kulturbüro Görlitz/Zgorzelec" knüpft und fördert grenzüberschreitende Bürgerkontakte. Für diese Aufgabe ist sein Arbeitsplatz eigentlich ideal positioniert: Er befindet sich, nur wenige Meter von der deutschen Seite des Grenzübergangs entfernt, in der Stadthalle. Im Großen Saal des pompösen Mehrzweckbaus im Jugendstil finden Sinfoniekonzerte statt, Handwerksmessen und Abiturfeiern. Der Weg zum "Kulturbüro" führt jedoch in den muffigen Requisitenkeller, vorbei an Tonnen alter Werbetafeln. Irgendwo dort unten, in einem fensterlosen Verschlag sitzt Czajkowski. Er raucht und sagt: "Das eine sind die Politiker, die von der ›Europastadt‹ reden. Das andere ist die Basis, an der tägliche Kleinarbeit geleistet wird." Er verweist auf Projekte, die sich inzwischen selbst tragen. Der binationale Kindergarten etwa oder der Jugendklub, in dem straffällig gewordene polnische und deutsche Jugendliche gemeinsam ihre Freizeit gestalten. Doch gleich darauf schimpft er los: "Für die Ämter ist an der Neiße oft einfach Schluss." Auf beiden Seiten herrsche eine erschreckende Unkenntnis über die jeweiligen Strukturen im Nachbarland. "Für viele Menschen war die Grenze früher wie eine Küste", meint Czajkowski, "mit einem Meer dahinter aus diffusem Ich-weiß-nicht-was. Diese Perspektive ändert sich nur sehr langsam." Und er fügt hinzu, dass sich Polen und Deutsche in den vergangenen zehn Jahren kaum wirklich näher gekommen seien. Aber schließlich - man habe ja auch genug mit sich selbst zu tun.

Die Görlitzer Altstadt ist wieder zur "Perle der Oberlausitz" avanciert, dank ausgebliebener Kriegszerstörungen und dank der massiven Sanierungen, die seit der Wende vorgenommen wurden. Der historische Kern, mit Straßenzügen aus Spätgotik, Renaissance und Barock, bildet gemeinsam mit den weitläufigen Nachbarvierteln der Gründerzeit ein Ensemble, das deutschlandweit seinesgleichen sucht. Prächtige Kaufmannshäuser reihen sich aneinander, mit dämmrigen Eingangshallen, hohen Gewölben und ebenso tiefen Kellern. Bucklig gepflasterte Gassen münden auf kleine Plätze. Doch unmerklich mischt sich ein Hauch Morbides hinzu. Das kommt von den Fenstern, wie sich herausstellt, denn viele, zu viele von ihnen sind tot. Sie machen aus den putzfrischen Fassaden eine groteske, ja gespenstische Kulisse. Mit einer Botschaft, die ebenso schlicht wie ernüchternd ist: Keine Bewohner! Trotzdem verspürt Aneta, die regelmäßig mit ihren Schülern zu "Deutschexkursionen" aus Zgorzelec herüberkommt, dass sich hier, in diesen Straßen, die Keimzelle der Stadt befindet. Auch deshalb möchte sie viel lieber hier wohnen als auf der anderen Seite. Ihr Umzug könnte dazu beitragen, dem grassierenden Leerstand Herr zu werden. Dem steht entgegen, dass sie noch keine EU-Bürgerin ist. Der Stadtrat diskutierte bereits einen Vorstoß der CDU-Fraktion, den Zuzug polnischer Bürger vorsichtig zu ermöglichen. Doch blieb es vorerst bei der Diskussion, zu viele verstrickte Rechtsprobleme tauchten auf.

Der massenhafte Leerstand in der Altstadt ist das sichtbare Zeichen für die 12.000 Einwohner, die ihre Stadt seit 1989 verlassen haben. Während nach Kriegsende über 100.000 Menschen hier lebten, sind es heute noch 61.000, und 24 Prozent von ihnen sind arbeitslos. Ramona Vogt von der "Städtischen Wirtschaftsförderung" bemüht sich redlich, ein weniger trostloses Bild zu entwerfen: 120 Millionen hat Siemens investiert in eine hochmoderne Anlage zur Fertigung von Industrieturbinen, auch den traditionsreichen Waggonbau gibt es noch, nun als Teil der kanadischen Bombardier Transportations Inc. Selbst postmoderne Industrien finden Gefallen am Standort Görlitz, wie das Hotline-Unternehmen twenty4-help beweist. Im jüngst eröffneten Call-Center wird schon bald der 100. Operator arbeiten. Doch bleiben die Strukturprobleme der Stadt von diesen Erfolgen unberührt. Ein altertümlicher Paternoster rumpelt im Treppenhaus des Rathauses unermüdlich auf und ab. Kurz vor dem vierten Flur, wo sich die Büros der Wirtschaftsförderung befinden, ziehen im Dämmerlicht die Worte: "Bitte aussteigen, Weiterfahrt ungefährlich" an der Wand herab. Angesichts solch zwiespältiger Aussichten nehmen die Wagemutigsten unter den Bewohnern ihr Geschick selbst in die Hand und versuchen es anderswo. Mit noch einmal 10.000 Wegzügen wird im Rathaus für das kommende Jahrzehnt gerechnet - unausbleibliche Folge: die Überalterung der Stadt.

Dieses Schicksal teilt Görlitz mit vielen Städten Ostdeutschlands. Und doch gibt es einen bedeutenden Unterschied: Keine andere Stadt hat einen Fluss mit solch einem Nachbarn am anderen Ufer. Dieser Nachbar könnte sich einst als lebensrettender Jungbrunnen für die ältliche "Perle" erweisen. Schon jetzt sind die Zgorzelecer aus dem Görlitzer Straßenbild nicht mehr wegzudenken. Überall im Geschäftszentrum, jenem Gründerzeitareal, das sich an die Altstadt anschließt, liegen polnische Stimmen in der Luft. Wie Ramona Vogt vom Wirtschaftsförderamt sagt, betrage der Anteil polnischer Kundschaft im Einzelhandel bis zu 50 Prozent! Und so richtet man sich ein: Ein polnischsprachiger Flyer stellt deutsche Geschäfte vor und wird ergänzt von vielen zweisprachigen Schildern. In den großen Märkten vor den Toren der Stadt kann auch mit Zloty bezahlt werden. So scheint es nicht von ungefähr, dass die Stadtbuslinie, die beide Stadtzentren im Halbstundentakt miteinander verbindet, den vielsagenden Namen "Linie P" trägt. Sie wurde in den frühen neunziger Jahren eingerichtet, als der Zgorzelecer "Polenmarkt" boomte und der massenhafte Ansturm deutscher Einkaufstouristen den Grenzübergang lahm zu legen drohte. Zwar sinkt seit Jahren die Zahl der deutschen Fahrgäste, doch der Anteil der polnischen nimmt kontinuierlich zu.

Heute bietet der Grenzübergang einen eher kümmerlichen Anblick. Drei Containerbaracken, verbeulte Hinweistafeln und ein paar Jeeps des BGS. Untergehakt schlendern polnische Oberschülerinnen herbei, sie werden überholt von einem eleganten, eiligen Herrn. Auf dem Parkplatz nahebei lümmeln Motorradmänner an ihren Maschinen. Mit aufgeschlitzten Lederanzügen dösen sie vor sich hin, ob sie nach Osten oder Westen wollen, ist nicht auszumachen. Vermutlich dösen auch die deutschen Grenzer, zumindest findet sich in ihrer Baracke kein Loch, durch das sich der Pass hineinschieben ließe. Die polnischen Kontrolleure dagegen sind auf der Hut. Mit unbestechlichen Mienen durchbohren sie die Grenzgänger, gönnen weder ihnen noch sich eine Aufweichung ihres einbetonierten Blicks.

Drüben geht es zunächst vorbei an kleinen Buden mit der unpräzisen Aufschrift "Offiziell Wechselstube". Es riecht nach feuchtem Beton. Dann taucht man ein in das andere Land, wird verschluckt von der Geschäftigkeit der Straßen. Reklame schreit von den Häusern herab, und noch aus den unscheinbarsten Läden im Souterrain dringen lockende Düfte. Reichlich beladene Überlandbusse rollen vom Busbahnhof und reihen sich ein in den pulsierenden Verkehr. Die Fußwege bersten vor Menschen. Männer in dunklen Mänteln lehnen rauchend an den Straßenecken und fixieren die Passanten, Frauen mit Hüten und, ach ja, Lippenrot, das man in Görlitz so selten sieht. Menschen, die einem dort auffielen, durch Kleidung und Gestus, glaubt man hier wiederzusehen, wie sie in Hauseingängen verschwinden, sich eine Zeitung am Kiosk kaufen. Plappernd trödeln Schulkinder über die Straße, und prompt stürzt sich quietschend ein Bursche vor ihnen in die Bremsen seines Mountainbikes, laut fluchend. Hinter diesem prallen Leben sind die verwitterten Fassaden der Häuser kaum wahrzunehmen. Zgorzelec ist eine polnische Stadt. Seit 1945 hat sich die Zahl ihrer Einwohner auf fast 40.000 verdoppelt, die Arbeitslosigkeit liegt unter zehn Prozent, und auch die Sozialstruktur kann sich sehen lassen: Im Vergleich mit den deutschen Nachbarn ist gerade der Anteil junger und gut ausgebildeter Menschen deutlich höher. Für sie ist es attraktiv, in unmittelbarer Grenznähe zu leben.

Aneta ist mit einer 6. Klasse auf dem Weg zur Grenze. An einer Kreuzung bleibt sie stehen und fordert ihre Schüler auf, dem Farbspiel der Ampel zu folgen, und ihr dann zu sagen, was sie sehen. Die Schüler glauben ihren Ohren nicht, sie protestieren und albern herum. Aber Aneta lässt nicht locker, bis sie eine Antwort erhalten hat. Es geht ihr um das mittlere Licht. Hier in Polen ist es orange, drüben in Deutschland gelb. "Solche Dinge fallen normalerweise nicht auf, man nimmt sie nur unterbewusst wahr. Sie sind es, die einem das Gefühl geben, fremd zu sein", erklärt sie, die so oft wie möglich im Unterricht auf die deutsche Seite geht. Ins Rathaus zum Beispiel, wo zur Gaudi der ganzen Klasse der Paternoster nimmermüde seine Runden dreht. "Ganz normal" soll es für ihre Schüler sein, sich im deutschen Teil der Stadt aufzuhalten. "Einer Klassenfahrt nach Krakau", erzählt sie, "müssen die Eltern schriftlich zustimmen, die Exkursionen nach Deutschland richten sich nach dem Wetter." Anetas Vision ist eine ungezwungene und selbstverständliche Normalität für diese Stadt mit ihren so ungleichen Teilen, der brodelnden Urbanität hier, und dem behäbigen Sanierungsglück dort.

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