Argumentations-Parcours

Gescheitertes Zuwanderungsgesetz Bis zum Februar wird mit dem Thema nun erst mal Länderwahlkampf gemacht

Richtig gewünscht hat sich die jetzige Situation niemand: Das Zuwanderungsgesetz ist wegen der brisanten Stimmabgabe des Landes Brandenburg vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) für nichtig erklärt worden, aber niemand weiß, wie es weitergeht. Der Satz, das Gesetz sei in Karlsruhe gescheitert, ist irreführend und wegweisend zugleich. Irreführend, weil das BVerfG nicht den Inhalt des Gesetzes, sondern sein Zustandekommen gerügt hat. Wegweisend, weil die Ausgangssituation nicht mehr so sein wird wie bei der Verabschiedung. Politische Konstellationen, Stimmungen und Mehrheiten lassen sich nicht wiederholen: Das macht eine Prognose schwierig.

Bei der Bundesratsabstimmung am 22. März hatten zunächst die brandenburgischen Minister Ziel (SPD) mit Ja und Schönbohm (CDU) mit Nein gestimmt. Die Verfassung sieht jedoch nur die einheitliche Stimmabgabe eines Bundeslandes vor, und so fragte der Bundesratspräsident Klaus Wowereit bei Ministerpräsident Stolpe (SPD) nach und erkannte die brandenburgische Stimme als Ja - es kam zum Eklat. Am Mittwoch vor Weihnachten nun urteilte der Zweite Senat des BVerfG, Wowereit habe gar nicht nachfragen dürfen, denn die uneinheitliche Stimmabgabe sei offensichtlich, die Äußerung nach der Rückfrage somit unerheblich gewesen. Eine Minderheit im Senat, die Richterinnen Osterloh und Lübbe-Wolff, sahen das in einem überaus lesenswerten Minderheitenvotum anders: Ihnen zufolge hatte Brandenburg seine Stimme vor der Äußerung Stolpes noch nicht abgegeben, denn es könne laut Grundgesetz eben nur einheitlich votieren. Wowereit habe dann zur Stimmabgabe aufgefordert, und von den allein abstimmungsrelevanten Zurufen Ja/Nein/Enthaltung sei lediglich das "Ja" Stolpes zu hören gewesen, Schönbohms darauf folgende Sentenz "Sie kennen meine Auffassung, Herr Präsident!" gehöre "dagegen eindeutig nicht in diese Kategorie." So einfach, klar und präzise kann eine juristische Argumentation eben auch sein.

Indes, das Minderheitenvotum hat sich nicht durchgesetzt, die Mehrheit hat das Gesetz für nichtig erklärt. Was folgt daraus für zukünftige Abstimmungen im Bundesrat? Meinungsverschiedenheiten in Landeskoalitionen wird es immer wieder geben, zumal in SPD/CDU-Konstellationen. Klar ist: Die Stimme des Ministerpräsidenten wiegt als solche nicht schwerer als die der anderen Landesvertreter. Der jeweils kleinere Koalitionspartner ist insofern gestärkt: Er kann im Bundesrat nicht von den anderen Vertretern seines Landes überstimmt werden und hat so eine echte Vetomöglichkeit. Alles weitere ist ziemlich offen. Die Senatsmehrheit entschied, der Bundesratspräsident hätte angesichts des offensichtlichen Dissenses nicht nachfragen dürfen. Nur: Wann ist ein Dissens schon offensichtlich, wann wird er nur vermutet oder ist zwar faktisch da, soll aber dennoch nicht dazu führen, die Stimme des Landes ungültig zu stempeln? In Brandenburg stand der Koalitionsbruch zur Debatte: Was, wenn Schönbohm mit seiner Äußerung hätte zum Ausdruck bringen wollen, er habe zwar eine gänzlich andere Meinung als Stolpe, wolle dem aber keine rechtlich relevante Stimme mehr geben?

Es kann dem Bundesratspräsidenten schwerlich zugemutet werden, Äußerungen in landesinternen Koalitionsstreitigkeiten auszulegen oder gar quasi in letzter Minute darüber zu befinden, ob ein Koalitionsstreit noch zähneknirschend geschlichtet worden oder bis zur Stimmenungültigkeit eskaliert ist. Zu schlussfolgern, die Sitzungsleitung dürfe lediglich nicht nachfragen und damit könne das Problem nicht wiederkehren, ist zu kurz gegriffen. Gewiss wird sich das Drehbuch des 22. März nicht noch einmal wiederholen. Nach diesem Urteil wird kein Bundesratspräsident nach der uneinheitlichen Stimmabgabe zweier Landesvertreter den Ministerpräsidenten um die verbindliche Stimmabgabe für das Land fragen. Es sind jedoch andere Verfahrensabläufe denkbar, die ein ähnliches Problem aufwerfen - beispielsweise, wenn die Sitzungsleitung die Abstimmung wegen Unklarheit wiederholen will oder, was durchaus üblich ist, ein anderes Bundesland die Wiederholung eines Stimmgangs fordert. Diese Geschäftsordnungsgänge können nicht allein dadurch abgeschnitten sein, dass ein Bundesland uneinheitlich votiert hat. Die Mehrheitsauffassung des BVerfG-Senats klärt damit die Lage bei im Bundesrat ausgetragenen Koalitionszwistigkeiten nicht, sondern hat einen Einzelfall entschieden, der sich gerade wegen des Urteils so nicht wiederholen wird. Weitere Unklarheiten sind gut möglich.

Und das Zuwanderungsgesetz? Regierung und Opposition wollen es nun im Februar neu verhandeln. Die Union dagegen will die Asylgründe beschneiden und die Diskussion "im Lichte der Terrorerfahrungen" führen, also mit restriktiven Scheuklappen. Die Union darf hoffen: Setzt sich Bundesinnenminister Otto Schily damit durch, den Gesetzentwurf im Vermittlungsausschuss zu verhandeln, schwindet der Einfluss der Grünen zu Gunsten der CDU/CSU. Für große Teile der Grünen war schon die nun gescheiterte Regelung nur gerade noch erträglich, weitere Zugeständnisse dürften die gebeutelte Partei schwer belasten. Anhand des Zuwanderungsgesetzes wird sie sich der Frage stellen müssen, wie sie mit der informellen Großen Koalition umgehen will, die sich um Themen wie Hartz und Zuwanderung bildet. Zwar dominieren rot-grüne Vertreter den Vermittlungsausschuss, aber die Union hält die Mehrheit im Bundesrat, und daran wird sich so rasch nichts ändern: Sonst müsste die Union die hessische Landtagswahl im Februar verlieren und die SPD dürfte die in Niedersachsen nicht verlieren. Zuwanderung könnte mit Blick auf die beiden Wahltermine auch in den Ländern wieder in den Mittelpunkt rücken: Ausgerechnet Roland Koch könnte mit dem Thema Integration und Nation in den Wahlkampf ziehen, der nach einer äußerst dubios finanzierten CDU-Wahlkampfaktion gegen die doppelte Staatsbürgerschaft hessischer Ministerpräsident geworden war. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der reaktionäre Einpeitscher auch 2003 wieder Ängste und Ressentiments schürt, etwa nach dem Motto: Wofür brauchen wir Ausländer, wenn vier Millionen Deutsche ohne Arbeit sind?

Hessen, Niedersachsen, Vermittlungsausschuss: Die vielen Konjunktive ändern nichts an der Lage. Die Unzufriedenheit darüber, nach jahrelanger Debatte keine Zuwanderungsregelung zu haben, und das Drängen auf eine rasche Einigung sind groß. Es ist zu befürchten, dass eine Mehrheit aus Vertretern der beiden Stillhalteparteien SPD und Union die vergleichsweise weichen humanitären Aspekte der Zuwanderung noch weiter zugunsten wirtschaftlicher Kriterien und einer schnellen, verfahrenssicheren Regelung zurückdrängen werden.

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