Ende der Kleingartenmentalität

Wahlrechtsreform Die ­Bundestagswahl wird wieder unrechtmäßig Überhangmandate erzeugen, die das Ergebnis verzerren. Ein Verbesserungsvorschlag

Die Bundestagswahl am 27. September wird – wahlrechtlich – auf verfassungswidriger Grundlage stattfinden. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte im vergangenen Sommer entschieden, dass Überhangmandate jedenfalls in bestimmten Fällen nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Jene entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate gewinnt als ihr aufgrund der eigentlich maßgeblichen Zweitstimmen Abgeordnete zustünden. Das kann entweder dazu führen, dass eine Partei weniger Stimmen für einen Parlamentssitz benötigt als eine andere (positives Stimmgewicht) – oder dazu, dass sich Zweitstimmen im Ergebnis zu Gunsten einer anderen Partei auswirken (negatives Stimmgewicht).

Den Effekt des negativen Stimmgewichts zu verhindern, hatte das BVerfG dem Gesetzgeber aufgegeben – und ihm eine Frist bis 2011 eingeräumt. Zu einem diesbezüglicher Antrag der Grünen signalisierte die SPD zuerst vorsichtige Zustimmung, lehnte ihn schließlich dann aber doch ab. Die Grünen hatten vorgeschlagen, Überhangmandate in einem Bundesland mit Listenmandaten aus anderen Bundesländern zu verrechnen – eine Regelung, die das negative Stimmgewicht beseitigt, jedoch neue Probleme geschaffen hätte. Insbesondere wäre der föderal begründete Länderproporz sowohl hinsichtlich des negativen wie des positiven Stimmgewichts verschoben und damit die Grundidee der Länderlisten verletzt worden. Nun liegt es am künftigen Gesetzgeber, die verfassungsrechtlichen Vorgaben umzusetzen.

Es wäre gut, wenn er dabei deutlich weiter spränge, als es die auf die Beantwortung einer Detailfrage begrenzte Entscheidung des BVerfG verlangt. Das System von 16 Landeslisten entsprach dem historischen Bedürfnis, die Länder gegenüber dem Bundesstaat zu stärken – nach 1945 war das ganz sicher wünschenswert. Auch nach 1989 dürfte die Möglichkeit, regional Einfluss auf die Zusammensetzung der Mandatslisten zu nehmen, zur gesamtdeutschen Integration beigetragen haben. Im Jahr 2009 gehört die Idee, den Deutschen Bundestag mindestens zur Hälfte nach 16 Landeslisten zu beschicken, jedoch in das Bundesarchiv nach Koblenz, Abteilung „Museales Staatsrecht“.

Vielmehr sollten die Parteien wahlrechtlich gezwungen werden, Bundeslisten zu bilden. Erstens entspräche dies in viel größerem Maße dem verfassungsrechtlichen Repräsentationsgedanken. Demzufolge repräsentiert jeder Bundestagsabgeordnete das ganze Wahlvolk – nicht nur den Teil, der seine Partei gewählt hat, und schon gar nicht nur diejenigen, die in „seinem“ Bundesland für „seine“ Partei gestimmt haben.

Bundeslisten als Integrationssignal

Zweitens liegt die ganz große Herausforderung für ein modernes Wahlrecht spätestens seit der BVerfG-Entscheidung zum Lissabon-Vertrag nicht mehr in Berlin, sondern in Straßburg. Karlsruhe hat zu Recht die demokratietheoretischen Defizite des parlamentarischen europäischen Systems dargelegt und auch damit den staatsrechtlichen Vorrang des Nationalstaats gegenüber der Europäischen Gemeinschaft begründet. Gut begründete nationale Regelungen können indes Vorbild für Gesetze auf EU-Ebene sein. Dies hat etwa dazu geführt, dass Großbritannien seine europäischen Abgeordneten nach dem auch in Deutschland praktizierten Verhältniswahlrecht – statt nach dem britischen Mehrheitswahlrecht – wählen lassen muss. Ein nationales Wahlrecht jedoch, das wegen der Aufteilung in 16 Bundesländer dauerhaft inkonsequent und daher rechtswidrig ist, taugt schwerlich als Vorbild für das, was Europa in 15 oder 20 Jahren näher zusammenrücken lassen könnte: europaweite Wahllisten. Die Bildung von Bundeslisten wäre daher für Deutschland ein wichtiges Integrationssignal – nach innen wie nach außen.

Ein Verlust der personellen Bindung von Abgeordneten an ihren Wahlkreis wäre hiermit nicht verbunden, weil die Direktmandate erhalten bleiben, gleichwohl aber kaum noch zu Überhangmandaten führen könnten. Indes verlangt die Idee der Bundeslisten von allen Parteien den Mut und die Entschlossenheit, sich als gesamtdeutsche Parteien zu begreifen und darzustellen – auch von der Union und der Linkspartei.

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