In der Zwangsjacke

Schwundstufe Die Politik der großen Koalition stimmt unzufrieden, SPD und CDU/CSU verlieren Wähler. Das Wahlrecht zu verändern, scheint ein eleganter Ausweg

Durchzuregieren - mit diesem Anspruch trat Angela Merkel die Kanzlerinnenschaft an. Große Koalition, das klang nach den besten Voraussetzungen dafür. 448 von 614 Sitzen im Bundestag: Das sah nach einer zur Sattheit tendierende Stabilität aus, inklusive der Möglichkeit, die Verfassung zu ändern. Der Bundesrat, seit Jahrzehnten als Blockadeinstrument der jeweiligen Bundesopposition gegeißelt, war neutralisiert: Auch hier haben Union und SPD jedenfalls informell das Sagen. Schöne Aussichten also, um durchzuregieren.

Aber es kam anders. Ein Jahr nach der Wahl hangelt sich die große Koalition von Krise zu Krise. Wäre die Gesundheitsreform gescheitert, stünden vielleicht bald Neuwahlen an. Der Ex-Minister-in-spe Edmund Stoiber (CSU) griff am vergangenen Wochenende beim CSU-Parteitag in Augsburg die SPD und insbesondere ihren Vorsitzenden Kurt Beck an, als habe sich der Gegensatz zwischen den beiden Volksparteien nicht wenigstens für eine Legislaturperiode in eine Zweckgemeinschaft umgewandelt. Der Machtkampf zwischen Bundeskanzlerin Merkel und den Ministerpräsidenten der Union ist mit Händen greifbar, während sich die SPD trotz ihrer deutlich schwindenden Hausmacht in etlichen Ländern - die spätestens seit der nordrhein-westfälischen Wahl dramatische Ausmaße erhalten hat - in Phlegmatismus ergeht. Die Wähler goutieren das alles nicht.

Es sieht nach Götterdämmerung für die beiden großen Parteien aus, weil keine eine eigene Mehrheit für sich erwarten kann, der Zusammenschluss aber auch frustriert. Union und SPD kommen in Umfragen zusammen auf kaum mehr als 60 Prozent. Alle anderen wählen neoliberal, grün, links - oder eine der vielen so genannten Splitterparteien, die bei den jüngsten Wahlen in Berlin auf über 13 Prozent der Stimmen kamen. Noch dramatischer sieht es aus, berücksichtigt man die Nichtwähler. Tatsächlich repräsentiert die "große Koalition" in Mecklenburg-Vorpommern nur gut ein Drittel der wahlberechtigten Bevölkerung. Unbeirrt aber vertreten Union und SPD den Anspruch, besser zu wissen als die Wähler, wo es langgehen soll. In Hamburg hat die CDU kürzlich die per Volksentscheid eingeführte Möglichkeit zurückgenommen, zu kumulieren und zu panaschieren, also: konkret zu entscheiden, wer in der Bürgerschaft vertreten sein soll, statt die von den Parteien aufgestellten Listen "von oben herunter" wählen zu müssen. Dafür wurde die CDU, die in der Hansestadt derzeit mit absoluter Mehrheit regiert, sogar aus den eigenen Reihen kritisiert. Der Bürger als unmündiges Wesen, der einfach nicht verstanden hat, was gut für ihn ist. Mit dieser anmaßenden Wahlrechtsänderung wird sich vermutlich noch das Hamburger Verfassungsgericht befassen müssen.

All dies sind Symptome einer Veränderung politischer Präferenzen. Früher waren Systementscheidungen gefragt: Sozialdemokratie versus rheinischem Kapitalismus, jeweils mit grünen oder ordoliberalen Nuancen. Seit der Kapitalismus einfach übriggeblieben ist und das Abschmelzen der Polkappen allenfalls zum Wechsel des Stromanbieters führt, ist die Beliebigkeit größer und die Bindung an die Volksparteien kleiner geworden. Union und SPD, denen traditionell die Aufgabe zufiel, die Richtung der Regierung zu bestimmen, haben sich zwangsgeehelicht und damit ihren natürlichen Feind verloren. Die Folge: Desinteresse der Wähler an der Politik, weil sie nicht mehr zwischen Alternativen wählen können, sondern stets die fade Konsenssuppe auslöffeln müssen. Die Wahl zwischen Alternativen zu haben, belebt aber das demokratische Geschäft.

Ein Ausweg aus der Misere scheint für diejenigen, die sich stabile Verhältnisse wünschen, die Veränderung des Wahlrechts zu sein. Während beim Verhältniswahlrecht die insgesamten Stimmenverhältnisse über die Stärke der Fraktionen entscheiden - so wie bei uns zur Zeit -, schickt das Mehrheitswahlrecht nur den in einem Wahlkreis relativ erfolgreichsten Bewerber ins Parlament. Auch in Deutschland könnte das Mehrheitswahlrecht, wie es etwa in Großbritannien gilt, eingeführt werden. Der maßgebliche Artikel 38 des Grundgesetzes überlässt es dem einfachen Gesetzgeber, zu bestimmen, nach welchem Verfahren der Bundestag gewählt wird. Das Bundeswahlgesetz könnte daher theoretisch jederzeit geändert werden. Tatsächlich ist das nur in einer großen Koalition machbar: Ein kleinerer Koalitionspartner würde sich damit ab der nächsten Wahl aus dem Parlament schießen. In der großen Koalition von 1966 bis 1969 gab es schon einmal den Versuch, das Mehrheitswahlrecht einzuführen - allerdings sprangen die Sozialdemokraten kurzfristig ab, um sich die Möglichkeit einer sozialliberalen Koalition nicht zu verbauen.

Es hätte einige Vorteile, das Mehrheitswahlrecht. Die absolute Mehrheit einer politischen Hauptströmung wird sehr viel wahrscheinlicher, die Wähler könnten Regierungen wirklich abwählen, statt nur die Koalitionspartner zu verschieben - und die Bindung der Abgeordneten an die Wähler würde erhöht, da niemand mehr über lediglich parteiintern aufgestellte Landeslisten in den Bundestag gelangen könnte. Andererseits zementiert das Mehrheitswahlrecht die Parteienlandschaft, weil neue Parteien kaum eine Chance haben, Direktmandate zu erringen. Zudem müssten die Volksparteien noch mehr als ohnehin schon um die Mitte werben, weil hier die Wahl entschieden wird, und könnten politische Ansichten jenseits des Mainstreams vernachlässigen. Die Vertreter von FDP, Grünen und Linkspartei, aber auch der NPD müssten für eine parlamentarische Präsenz ihre Auffassungen dann in Union und SPD durchsetzen. Vor allem aber droht die Gefahr, dass die grobe Richtungsentscheidung der Wähler nicht abgebildet wird: Würden etwa in einem Berliner Wahlkreis 30 Prozent für den CDU-Kandidaten, 28 Prozent für den der SPD, 15 Prozent für den Grünen und 15 Prozent für den Linken stimmen, würde der CDU-Kandidat in den Bundestag einziehen, während die anderen Stimmen verfielen. Ein Garant für hohes Interesse ist das Mehrheitswahlrecht zudem nicht: An der letzten britischen Unterhauswahl nahmen nur gut 60 Prozent der Wahlberechtigten teil.

Und knapp kann es auch beim Mehrheitswahlrecht werden. Hätten im September 2005 nur die Erststimmen über die Besetzung des Bundestages entschieden, stellte die Union 150 Abgeordnete, die SPD 145, die Linkspartei 3 und Hans-Christian Ströbele verträte die Grünen im Parlament. Eine Mehrheit von einer Stimme für Angela Merkel. Keine schönen Aussichten zum Durchregieren. Die gewünschte Stabilität käme besser von innen heraus - und aus dem Vertrauen der Wähler in eine führungsstarke Politik, die deren Interessen wahrt.


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