Tausche Alter gegen Religion

Antidiskriminierungsgesetz Die große Koalition steht kurz vor einem Kompromiss

"Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren" - Artikel 1 der UNO-Menschenrechtserklärung ist eine annäherungswerte Fiktion. Denn faktisch sind alle Menschen verschieden - sie sind unterschiedlich alt, gebildet, körperlich tüchtig, sprachbegabt, gläubig und sehen zu allem Überfluss auch noch verschieden aus. Darf man sie so unterschiedlich, wie sie sind, auch behandeln?

Der Staat republikanischer Prägung darf das grundsätzlich nicht. In der Tradition der französischen Egalité garantiert etwa Artikel 3 unseres Grundgesetzes die Gleichbehandlung durch den Staat - auch wenn die Schlussfolgerungen daraus höchst diffizil sind. Aber wie steht es um die Behandlung durch Bürger? Auf der einen Seite ist es Aufgabe des Staates, die Freiheit des Einzelnen zu garantieren, im Rahmen der Gesetze tun und lassen zu können, was er will und also auch nur mit demjenigen Geschäfte zu machen, den er sich als Partner aussucht. Auf der anderen Seite leben Menschen in struktureller Unfreiheit, wenn sie aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung in der Gesellschaft weniger Möglichkeiten haben als Angehörige der jeweils herrschenden Gruppe. Diese Möglichkeiten dennoch zu garantieren, hat sich nun auch Deutschland zur Aufgabe gemacht: Nachdem das rot-grüne Projekt eines Anti-Diskriminierungsgesetzes am Bundesrat gescheitert war, wendet sich die große Koalition einem Allgemeinen Gleichstellungsgesetz zu. Nicht ganz freiwillig, denn Deutschland hat einige EU-Richtlinien gegen Diskriminierung noch nicht umgesetzt, obwohl die Frist dafür teilweise seit Mitte 2003 abgelaufen ist. Neben der latenten Gefahr von Schadensersatzklagen durch diskriminierte Bürger drohen der Bundesrepublik nun auch noch Bußgeldzahlungen an Brüssel.

Zur Zeit streiten Union und SPD darüber, welche Gruppen in welchem Umfang von dem Gesetz geschützt werden sollen. Die Union will die gemeinschaftsrechtlichen Mindestanforderungen so gerade eben erfüllen: Danach erstrecken sich die Diskriminierungsverbote im Arbeitsleben auf die Merkmale ethnische Herkunft, Geschlecht, Alter, Behinderung, sexuelle und religiöse Orientierung, während im übrigen Alltag lediglich die ethnische Herkunft und das Geschlecht keine zulässigen Anknüpfungspunkte für eine unterschiedliche Behandlung sein dürfen. Die SPD will auch die übrigen vier Gründe für unzulässig erklären. Für die Betroffenen ist es dabei kein Luxus, vom geplanten Gesetz geschützt zu sein - Beispiel Behinderung: So kann es einer Rollstuhlfahrerin passieren, dass sie vor einem Interkontinentalflug ärztlich versichern lassen muss, dass sie andere Passagiere aufgrund von "Geruch, Aussehen oder Verhalten" nicht stört. Beispiel Alter: Versicherungen lassen den Schutz vor Restschuldbefreiungen aufgrund von Arbeitslosigkeit bisweilen mit 65, denjenigen vor den Kosten für Sehhilfen oder Zahnersatz mit 70 einfach auslaufen und sichern sich so die versicherungsmathematisch "günstigen" Risiken.

Es gibt viele andere Aspekte, die Betroffene ohne eigene Schuld benachteiligen können: mangelnde Bildungschancen etwa oder eine frühkindliche Traumatisierung. Das ist hinzunehmen, weil nicht jeder Einzelfall geregelt werden kann und das Geschäftsleben nicht umfassend staatlich organisiert werden darf. Dennoch zeigt die Diskussion, wie willkürlich die Auswahl der Kriterien ist. Die Koalition wäre gut beraten, sich daran zu orientieren, wie häufig, wie einschneidend, wie weitgehend die Diskriminierungen tatsächlich sind. Doch es sieht anders aus: Die Kompromisslinie in der Koalition läuft erwartungsgemäß entlang ideologischer Gräben und den Zielgruppen der beiden Parteien. Die Union könnte die Kriterien Alter und Behinderung akzeptieren, lehnt die Berücksichtung der religiösen oder sexuellen Orientierung aber ab. Geht es nach der Union, wäre es daher zulässig, einer Muslimin eine Wohnung deshalb nicht zu vermieten, weil sie nicht in die bürgerlich-christliche Hausgemeinschaft passt - oder einem Schwulen den Zutritt zu einem Fitnessstudio zu verweigern. Homosexuelle und Andersgläubige standen eben noch nie unter dem Schutz der CDU/CSU, Alte dagegen gehören durchaus zu ihrem Klientel.

Auch andere offene Fragen lassen Spannung aufkommen, wie die bis Ostern geplante Einigung über das Gesetz aussehen wird: Etwa, ob sich die SPD mit dem Wunsch durchsetzen kann, dass Betriebsräte oder Gewerkschaften auch ohne oder gar gegen den Willen des Betroffenen klagen können - vermutlich nicht, denn solche Verbandsklagerechte haben es traditionell schwer im individualrechtlich geprägten Deutschland. Oder, wo die von der EU geforderte Antidiskriminierungsstelle eingerichtet wird - möglicherweise als Teil eines Ministeriums. Besonderen Sprengstoff hält die so genannte Kirchenklausel in der das Arbeitsleben betreffenden EU-Richtlinie bereit: Kirchen und ähnliche Arbeitgeber dürfen demnach anhand der Weltanschauung differenzieren, wenn diese eine "wesentliche berufliche Anforderung" darstellt. Die Union argumentiert, dies sei im Rahmen der Kirchen per se so, die SPD möchte auf die Art der Tätigkeit abstellen - sollte sich die Union durchsetzen, könnte ein kirchlicher Friedhof einen Gärtner auch weiterhin wegen seines muslimischen Glaubens ablehnen, obwohl der die Geranien wohl schwerlich zum Gebet rufen wird. Dies würde die ohnehin schon vordemokratisch starke arbeitsrechtliche Stellung der Kirchen bestätigung.

Multikulturalität hatte unter Rot-Grün eine leidlich starke Lobby. Wie viel dieser Stärke die SPD in die große Koalition herüber zu retten gelang, wird sich an der Einigung zum Gleichstellungsgesetz ablesen lassen. Schon jetzt aber ist, wie stets, zu bedauern, dass die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts überhaupt Gesetze gegen die Diskriminierung braucht.


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