In Stuttgart tobt gerade ein kleiner Kulturkampf: Das traditionsreiche Metropol-Kino soll einer Boulderhalle weichen. Petitionen wollen dafür sorgen, dass wieder ein Lichtspieltheater in die denkmalgeschützten Hallen einzieht. Interessanterweise wird diese Bewegung hauptsächlich von Bildungsbürgern gestützt, die in dem mainstreamorientierten Metropol eher selten anzutreffen waren, aber das ist eine andere Frage.
In den sozialen Medien wird das Ende des Kinos nicht nur bedauert, sondern auch explizit begrüßt. Das Kino an sich ist eine durch die Gesetze des Marktes aussterbende Art, die nicht künstlich am Leben erhalten werden sollte, so der Tenor vieler Kommentare. „Wenn die Halle läuft und sich dort massig junge Menschen treffen und sportlich betätigen ist das sinnvoller als eine alte kulturelle Einrichtung […] zu subventionieren aus Sentimentalität“, schrieb jemand bei Facebook.
Diese Argumentation ist symptomatisch. Nicht nur für den Umgang mit dem Kino, sondern auch für die Ideologie des zeitgenössischen Kapitalismus im Allgemeinen. Denn hier trifft neoliberales, marktradikales Denken ein grün-liberales Denken, das viele rechtsgerichtete Menschen fälschlich für links halten. Für eine urbaneHipster-Elite ist das Kino, vor allem wenn es sich nicht um das schnuckelige Programmkino um die Ecke handelt, so anachronistisch wie Fleisch essen und mit dem eigenen PKW in der Stadt fahren. Zwei Stunden sitzen, sich berieseln lassen, Nachos und literweiße Cola – nichts scheint dem Zeitgeist fremder zu sein.
Kino als „Massenbetrug“?
Diese Denke klingt nicht nur wie eine seltsame Mischung aus Markradikalismus und Grün-Liberalismus, sondern lässt sich auf den ersten Blick durchaus mit klassischem linken Denken in der Tradition der Frankfurter Schule verwechseln. Erinnert die Kritik an das passiv und unfit machende Kino im Gegensatz zur Kletterhalle, in der jungen Menschen miteinander interagieren, nicht aus Ferne an das längst in den mitte-linken Mainstream-Diskurs geträufelte Adorno-Verdikt des Films (und damit des Kinos als dessen technisches Dispositiv) als „Kulturindustrie“, als „Zerstreuung“, als „Massenbetrug“, der die Menge ruhig halte?
Wer heute aus diesem progressiv klingenden, grün-kapitalistischen Querfrontdenken gegen die (Kultur-)Industrie und den Massenkonsum argumentiert, kann sich als besonders „woke“ stilisieren, wie die scheinbar aufgeklärten Menschen, die auf Instagram gegen die bösen Konzerne („Monsatan“, „Du weißt aber, dass die zu Nestlé gehören“) wettern, aber ignorieren, wie viel Wasser für ihre tägliche Avocado verbraucht wird. Die sich über geistlos konsumierende Unterschichten ärgern, gleichzeitig aber glauben, mit Konsum die Welt zu retten (Unverpacktläden, Konzerne die den Regenwald aufforsten).
Doch wer diese Haltung für Kapitalismuskritik hält – sei es um sich damit zu schmücken oder es als kulturmarxistisch zu diffamieren –, der verkennt, wie der Markt heute funktioniert. Denn der avancierte Kapitalismus basiert längst nicht mehr auf der fordistischen Massenproduktion, die darauf angewiesen war, auf der Abnehmerseite ein Heer von geistlosen, passiven Massenkonsumenten heranzuzüchten. Im Gegenteil: Die heutige Plattform-Economy lebt von mündigen, hoch individualisierten „Verbrauchern“ (was für ein altmodisches Wort), auf die man die jeweiligen Produkte maßschneidern kann. Die Wirtschaft hat sich, wie zum Beispiel Andreas Reckwitz überzeugend herausgearbeitet hat, die Kritik der 1968er an der Entfremdung in der industriellen Arbeits- und Lebenswelt einverleibt und Kreativität zum Fetisch gemacht. Der zeitgenössische Kapitalismus ist längst nicht mehr Teil des „stählernen Gehäuse der Rationalität“ (Max Weber), sondern ist „fluide“ (Zygmunt Bauman) geworden. Die postindustrielle, postmaterielle Ökonomie lebt vom stetigen Wandel. Die Nicht-Abschließbarkeit ist ein Wert an sich geworden, der Kapitalismus hat hier auch die Träume progressiver Künstler von der Romantik bis zur Moderne gekapert.
In einer solchen Vorstellungswelt hat das Kino, um wieder den Bogen zurück zu schlagen, als Leitmedium des spätindustriellen 20. Jahrhunderts nicht mehr viel zu melden. Genauso wenig der Film an sich. Die fluidere Serie und das Streamen als zeitgemäße, individualisierte Rezeptionsform passen viel besser zum neuen Geist des Kapitalismus als der unflexible Zwei-Stunden-Spielfilm und das den Rezipienten in ein starres Gehäuse zwängende Kino.
Das Perfideste an dem neuen, scheinbar progressivenImage des Kapitalismus: Wer heute kritisieren will, wie der Markt in sämtliche Lebenswelten eindringt und die Menschen dazu zwingt, immer und überall marktkonform zu denken und zu handeln (und das bedeutet eben nicht mehr, passiv zu konsumieren, sondern kreativ, flexibel und fit zu sein) – der sieht sich fast schon gezwungen, einen anderen Weg als Adorno und seine Nachfolger zu gehen. Denn wer die überkommene Massenkultur verdammt, macht sich nicht nur des Klassismus verdächtig, sondern auch zum Komplizen der avancierten kapitalistischen Ideologie.
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