So widersprüchlich wie die Gesellschaft

Academy Awards Die wegen ihrer Fixierung auf weiße Männer kritisierte Oscar-Academy war schon immer schwer zu reformieren. Die holprige Geschichte einer weltanschaulichen Öffnung
Halle Berry bei der Oscarverleihung 2002. Sie ist die erste Schwarze Frau, die die Auszeichnung für die beste weibliche Hauptrolle gewann
Halle Berry bei der Oscarverleihung 2002. Sie ist die erste Schwarze Frau, die die Auszeichnung für die beste weibliche Hauptrolle gewann

Foto: Getty Images

Anthony Hopkins (The Father) und Gary Oldman (Mank) werden als weiße Darsteller diesen Sonntag nur eine Minderheit darstellen. In der Kategorie Bester Hauptdarsteller sind bei den Oscars 2021 mit dem mittlerweile verstorbenen Afro-Amerikaner Chadwick Boseman (Ma Rainey’s Black Bottom), dem pakistanischstämmigen Briten Riz Ahmed (Sound of Metal) und dem in Südkorea geborenen Steven Yeun (Minari) zum ersten Mal drei nicht-weiße Darsteller nominiert. Gleiches gilt bei den Nebendarstellern mit den Schwarzen Leslie Odom Jr. (One Night in Miami), Daniel Kaluuya und Lakeith Stanfield (beide für Judas and the Black Messiah). Bei den Hauptdarstellerinnen sind es mit Viola Davis (Ma Rainey’s Black Bottom) und Andra Day (The United States vs. Billie Holiday) „nur“ zwei, das gab es in der Geschichte der Academy Awards aber bisher nur einmal. In der Kategorie Beste Regie sind mit David Fincher (Mank) und Thomas Vinterberg (Der Rausch) erstmals nur zwei weiße Männer vertreten.

Kurz gesagt: Die Nominierungen für die 93. Academy Awards, die am 26. April 2021 verliehen werden, sind die diversesten aller Zeiten, auch wenn es vielen BeobachterInnen in den USA nicht weit genug ging. So schaffte es zum Beispiel One Night in Miami der afro-amerikanischen Regisseurin Regina King über ein Gipfeltreffen der Black-Power-Ikonen Muhammad Ali, Malcolm X, Sam Cooke und Jim Brown nicht in die Königskategorie Bester Film. Die meisten Nominierungen holte mit zehn Nennungen Mank, ein Film über den Citizen Kane-Drehbuchautoren Herman J. Mankiewicz im Zwiespalt zwischen Kunst und Kommerz. Der Film, der wegen seiner Spitzenposition bei den Nominierung in vielen deutschen Medien fälschlich zum Oscar-Favoriten stilisiert wurde (etablierte Oscar-Auguren rechnen ihm kaum Chancen aus) wurde in manchen US-Foren als typisches „Boring-White-Movie“ bezeichnet wurde, als weiß-männliche Nabelschau, die drängende Fragen der Gegenwart ignoriert. In früheren Jahren wäre Mank klassisches Oscar-Material gewesen.

Die Oscar-Mühlen mahlen langsam: Wie die Academy funktioniert

Vier Jahre nach dem mit dem Hashtag #Oscarssowhite gegeißelten Debakel, als keine nicht-weißen Schauspielerinnen und Schauspieler unter den zwanzig nominierten Haupt- und NebendarstellerInnen waren, haben sich die strukturellen und personellen Reformen der Academy offenbar ausgezahlt.

Denn um die vielkritisierte weiß-männliche Monokultur bei den Oscars zu verstehen, die nur langsam immer mehr Risse zeigt, muss man die Struktur der Academy of Motion Picture Arts and Sciences (AMPAS) verstehen. Der Academy Award ist kein Kritikerpreis, sondern wird von der Industrie selbst vergeben. AkteurInnen aller Gewerke, vom Schauspiel über die Kamera bis zum Kostüm, wählen die herausragendsten VertreterInnen ihres Faches. Anders als bei den großen Filmfestivals wie Cannes, Venedig oder Berlin trifft sich bei den Oscars keine kleine Jury im Hinterzimmer, die sich in einer Diskussion auf möglichst paritätische, die Gesamtgesellschaft abbildende Voten einigen könnte.

Die derzeit 9.300 Mitglieder der Academy stimmen in freier, geheimer Briefwahl ab. In die AMPAS aufgenommen werden können FilmkünstlerInnen, die von mindestens zwei Kollegen des Berufszweigs vorgeschlagen werden. Außerdem werden jedes Jahr die erstmals Nominierten des Vorjahres automatisch Teil der Academy. Durch diese Praxis pflanzte sich die männliche Dominanz, die in der Filmindustrie Hollywoods seit der Etablierung der großen Studios Ende der 1920er-Jahre herrschte (in den Anfangsjahren war die Filmwelt noch vielfältiger), weiter fort und spiegelte sie in den Oscar-Nominierungen wider. Da die Mitgliedschaft in der Academy lebenslang gilt (Ausnahmen sind die nach den jeweiligen Missbrauchsfällen suspendierten Harvey Weinstein und Roman Polanski), entstand über die Jahre in der AMPAS eine Unwucht, die alte, weiße Männer begünstigte. Und die nominierten offensichtlich, wie viele Jahrzehnte bewiesen, im Verborgenen ihresgleichen. So entstand das Image eines heimlichen, reaktionären Bollwerks inmitten des nach außen so liberalen Hollywoods. Manchmal zeigt sich der anti-progressive Club innerhalb der Academy sogar offen: 2006 kündigten die Altstars Tony Curtis und Ernest Borgnine an, nicht für den „Schwulen-Western“ Brokeback Mountain stimmen zu wollen. Obwohl der gebürtige Taiwanese Ang Lee für Brokeback Mountain den Regie-Oscar gewann, ging der Beste Film überraschend an L.A. Crash.

Nach #Oscarsowhite konnten die EntscheiderInnen der AMPAS nicht mehr auf eine Selbstreinigung von innen hoffen, auf eine höhere Akzeptanz für marginalisierte Gruppen, die in der Filmwelt doch längst „angekommen“ waren. Die Verantwortlichen reagierten, indem sie neben den neuen Oscar-GewinnerInnen, die obligatorisch jedes Jahr in die Academy aufgenommen werden, vermehrt Frauen, nicht-weiße KünstlerInnen und jüngere Filmschaffende einlud.

Oscars so white? Die Geschichte afroamerikanischer DarstellerInnen

Die Versäumnisse lassen sich nicht beschönigen: Nicht-weiße Darsteller waren bei den Nominierungen bisher gnadenlos unterrepräsentiert. Zwischen 1975 und 1981 wurde zum Beispiel gar kein nicht-weißer Schauspieler vorgeschlagen. Erst im 21. Jahrhundert explodierte die Zahl der schwarzen Nominierten, auch wenn es wie 2016 immer wieder Rückschläge gab. Von den bis 2021 nur 14 nicht-weißen Schauspielerinnen, die für eine Hauptrolle im Rennen waren, stammen acht aus der Zeit nach 2000. Die restlichen sechs verteilen sich auf die mehr als sieben Jahrzehnte vor der Jahrtausendwende. Auch im neuen Millennium hat sich aber nicht viel an der Tatsache geändert, dass es nur wenige oscar-nominierte Rollen schwarzer SchauspielerInnen gab, die nicht primär um die Hautfarbe selbst zirkulierten. Rare Beispiele aus der jüngeren Geschichte sind Morgan Freeman (Die Verurteilten, Million Dollar Baby), Denzel Washington (Flight) oder Octavia Spencer (Shape of Water).

Aber immerhin wurden sie nominiert, denken sich vielleicht afro-amerikanische VertreterInnen anderer Berufsgruppen in Hollywood. Außerhalb der Schauspielkategorien ist die historische Quote von nicht-weißen Filmschaffenden nämlich noch schlechter. Während Hollywood, um nicht unglaubwürdig zu wirken, schwarze Menschen vor der Kamera zeigen musste (wenn auch oft nur als Stereotyp oder Sidekick) fassten AfroamerikanerInnen in den handwerklichen Branchen wie Kamera (nur zwei Nominierungen seit 1929!) oder Schnitt kaum Fuß. Nur ein Beispiel: Quincy Jones war 1985(!) der erste Schwarze, der als Produzent in der Kategorie Bester Film nominiert wurde. Schon 1972 holte hingegen Isaac Hayes mit dem Titellied zu Shaft den Oscar für den Besten Song. Eine nicht selbstverständliche Verbeugung vor dem damals in Blüte stehenden Black Cinema. Der heute vergessene weiße Filmkomponist David Raksin verließ daraufhin „angewidert“ die Academy.

Hattie McDaniel war 1939 der erste nicht-weiße Mensch, der für einen Oscar nominiert war – und ihn auch gewann. Ihr Part in Vom Winde verweht als augenrolllende, unterwürfige und nicht ganz so helle Dienerin der Hauptfigur Scarlett O’Hara ist typisch für die Rollen, in denen Schwarze akzeptiert wurden. Bei der Oscar-Verleihung 1940 saß sie übrigens allein mit ihrem Agenten an einem eigenen Tisch am Ende des Raumes. Das Hotel, in dem die Gala stattfand, erlaubte eigentlich nur weiße Besucher, machte aber generös eine Ausnahme.

In der Kategorie Nebendarstellerin waren afro-amerikanische Schauspielerinnen dann auch früh repräsentiert, meist als devote Mütter oder Hausangestellte. 1949 war Ethel Waters als Nebendarstellerin in Pinky nominiert; sie spielt die Großmutter einer hellhäutigen Afroamerikanerin, die sich als Weiße ausgibt. Die Hauptrolle spielte allerdings mit Jeanne Crain eine weiße Schauspielerin. Dass der Film überhaupt für mehrere Oscars ins Rennen ging, spricht hingegen für progressive Tendenzen in der Academy. Schließlich war Pinky im amerikanischen Süden ein Skandalfilm, da ein weißer Mann eine schwarze Frau küsst (auch wenn die von einer Weißen verkörpert wurde).

„Uncle Tom“ und „Magical Negro“

Der erste schwarze Schauspieler, der einen Academy Award gewann – wenn auch nur einen Ehren-Oscar – war 1948 James Baskett. Er spielte im berüchtigten Disney-Film Song of the South (deutscher Titel: Onkel Remus’ Wunderland) den freundlichen Sklaven Uncle Remus – ein typisches Exemplar des rassistischen Stereotyps „Uncle Tom“, des fröhlichen, den weißen Herren freundlich gesinnten Sklaven.

Der erste afroamerikanische Darsteller, der für eine Hauptrolle nominiert wurde, war Sidney Poitier, 1958 für Flucht in Ketten. 1963 gewann er den Award für Lilien auf dem Feld. In beiden Filmen verkörperte er einen häufigen Rollentypus, den Spike Lee den „Magical Negro“ nennt: Einen Schwarzen, der einem Weißen wie aus dem Nichts zur Hilfe kommt.

Mit Dorothy Dandridge war eine Hauptdarstellerin vier Jahre früher mit einer Nominierung dran als Poitier. Die Sängerin und Schauspielerin, eine der wenigen schwarzen Superstars der 50er-Jahre, spielte die Titelrolle in Carmen Jones, Otto Premingers Verfilmung des gleichnamigen Musicals, einer dezidiert afroamerikanischen Variante der Oper Carmen von George Bizet.

Es sollte fast 20 Jahre dauern, bis wieder eine schwarze Hauptdarstellerin nominiert wurde. Dann aber doppelt: 1972 war Diane Ross für ihre Performance als Billie Holiday (wie Andra Day in diesem Jahr) in Lady Sings the Blues vorgeschlagen. Mitnominiert war Cicely Tyson in Sounder, einem Drama über das Schicksal einer afroamerikanischen Familie während der Depressionszeit – ein rares Beispiel für einen Film über ein rein schwarzes Thema, der für den Besten Film nominiert war. Auch wenn mit Martin Ritt ein Weißer Regie führte. Es dauerte bis 2002, als mit Halle Berry (Monster’s Ball) die erste schwarze Hauptdarstellerin den Oscar auch gewann.

Oscars und Gesellschaft: Gleichzeitigkeit der Widersprüche

Nicht nur Anhand der steigenden Repräsentanz von gesellschaftlich marginalisierten Gruppen, sondern auch bei der Thematik der oscarnominierten Filme lässt sich die Öffnung der Filmwelt und der Gesamtgesellschaft nachvollziehen.

Lange galt die Academy als Bewahrerin einer heilen Welt mit einer Vorliebe für gediegene historische Dramen. Obwohl es auch Ausnahmen wie das Alkoholikerdrama Das verlorene Wochenende (1945) gab, mussten mutige, fordernde Filme mit „schwierigen“ Sujets regelmäßig Feel-Good-Movies den Vorzug lassen. Bis heute.

2018 zog etwa Spike Lees BlackKklansman 2018 den Kürzeren gegen den immerhin rassismuskritischen, aber zu versöhnlichen Green Book, wiederum von einem weißen Regisseur gedreht. Aber es gibt aus der neueren Geschichte auch Gegenbeispiele: 2016 stach das kleine, anspruchsvolle afroamerikanische Coming-of-Age-Drama Moonlight beim Besten Film das Musical La La Land aus.

In den 1960er-Jahren öffnete sich der Oscar analog zur Gesellschaft immer mehr für kontroversere Themen. Mitte des Jahrzehnts der großen historischen und sozialen Umwälzungen gab es eine Übergangszeit, in der die guten alten, „sauberen“ Studiofilme wie Dr. Schiwago, The Sound of Music oder Cleopatra neben modernen, als zynisch und unmoralisch wahrgenommene Dramen wie Alfie oder Darling nominiert waren.

1967 zeigte sich die Academy auf der Höhe der Zeit, als sie mit Bonnie und Clyde und Die Reifeprüfung die beiden Filme nominierte, die als Initialzündung der New-Hollywood-Bewegung gelten, welche die modrige, eskapistische Traumfabrik entstaubte. Beide Filme gingen leer aus. Sieger wurde In der Hitze der Nacht – ein Rassismusdrama, das wie Green Book als allzu versöhnlich gilt.

1969 erreichten die Oscars einen Höhepunkt in Sachen Konfrontation mit harschen Realitäten. Das dreckige Großstadtdrama Asphalt Cowboy über einen männlichen Callboy mit homoerotischen Untertönen war der erste und bis heute letzte Beste Film, der in den USA ab 18 freigegeben war.

Im selben Jahr gewann übrigens der als White Supremacist berüchtige John Wayne seinen einzigen Oscar – und Moderator Bob Hope machte bei der Gala homophobe Witze. Die Academy ist eben keine homogene Masse, sondern ein Querschnitt der Gesellschaft, ihrer Widersprüche und Kämpfe.

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Geschrieben von

Sebastian Milpetz

Journalist und Filmexperte, aktuell Online-Redakteur bei TV Spielfilm. Interessen: Gute Filme und schlechtes Fernsehen, Politik, Kultur, Medien

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