Mit Enzensberger aufs Meer geblickt

Tourismus Der Schiffbruch der Costa Concordia ist ein tragisches Unglück, bietet aber Anlass über das Verhältnis von Tourismus und Gesellschaft nachzudenken
Keine Postkartenansicht: Das Wrack der Costa Concordia
Keine Postkartenansicht: Das Wrack der Costa Concordia

Foto: Vincenzo Pinto / AFP / Getty Images

Wie man hört, boomt derzeit auf der italienischen Insel Giglio die Tourismusindustrie. Seit sich dort im Januar das Kreuzfahrtschiff Costa Concordia in die stabile Seitenlage manövrierte, ist der Ort um eine Attraktion reicher. Nun, zur Hochsaison, wird sie von Tages-touristen in Beschlag genommen, die das 450-Millionen-Euro-Wrack aus der Nähe betrachten wollen. Die Restaurants und Shops auf der Insel sind voll, allein der Souvenirhandel will aus pietätischen Gründen noch nicht in Schwung kommen. Eine Ruine des organisierten Massentourismus ist hier zum Anlaufpunkt für noch stärkeren Tourismus geworden – eine Situation, die nur scheinbar paradox ist.

1958 schrieb Hans Magnus Enzensberger seine Theorie des Tourismus, der als massenhaftes Phänomen zu jener Zeit an Konjunktur gewann. Gerade für die westdeutschen Wirtschaftswunderbürger war es eine neue Situation, unbewaffnet und aus Neugier in fremde Länder zu reisen. Was er damals, nah am Duktus der Frankfurter Schule, zu Papier gebracht hat, erscheint als Phänomenologie des Tourismus noch heute treffend. Im Mittelpunkt steht die Abrechnung mit den Prinzipien Normung, Montage und Serienfertigung, die Enzensberger als Modelle hinter der vermarkteten Reise erkennt. Sehenswürdigkeiten werden dort synthetisch für Touristen produziert, wo vorher keine waren, und deren Begutachtung zur Norm erklärt. Die so geschaffenen Attraktionen werden entlang einer Route aufgefädelt und auf diese Weise montiert. Solche Produkte und Routen können über die ganze Welt verteilt, also in Serie angefertigt werden.

Enzensbergers Analyse mündet in dem prägnanten Satz: „Der Touris-mus ist seither das Spiegelbild der Gesellschaft, von der er sich ablöst.“ Abenteurertum und die Suche nach dem Ausgefallenen, Exotischen kann der Massentourismus jedoch nicht hinreichend befriedigen, zu allgegenwärtig sind die Mechanismen der verwalteten Welt. So gesehen ist das Wrack der Costa Concordia wahrhaft spektakulär. Hier, und zwar wirklich nur hier, gibt es etwas Neues zu sehen, das nicht das Ziel jeder anderen Reise in dieser oder anderer Art, dem Wesen nach aber identisch, auch zu bieten hätte.

Das Wrack und die Aura

Die Erfahrung von wahrhafter, unmittelbarer Differenz und des Ausbruchs aus dem Ennui bietet heute nur noch die hautnahe Begutachtung der Katastrophe, die nicht im Reiseführer beworben, sondern als breaking news auf die Bildschirme gebracht wird. Enzensberger schrieb noch: „Die bunten Aufnahmen, die der Tourist knipst, unterscheiden sich nur den Modalitäten nach von jenen, die er als Postkarten erwirbt und versendet.“ Von einem Schiffswrack wird es keine Ansichtskarten geben, Fotos davon hingegen unzählige.

Nähert man sich der Costa Concordia jedoch ästhetisch an, so werden Benjamin-Exegeten voll auf ihre Kosten kommen: Als Kunstwerk betrachtet strahlt das Wrack eine intensive Aura aus, und als Monument des Scheiterns liegt es jenseits jeder technischen Reproduzierbarkeit.

Nun kann man fragen, ob es weniger zynisch ist, den Stahlkoloss vor Giglio als Resonanzkörper für philiosophische Abhandlungen zu benutzen, als ihn in bester Ferienstimmung als Kulisse für exklusive Urlaubsfotos zu verwenden. Aber auch das zählt zu den menschlichen Grunderfahrungen: Große Unglücke und der Umgang mit ihnen sind immer auch Denkanstöße.

Sebastian Triesch lebt in Berlin und war noch nie auf einem Kreuzfahrtschiff

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