Samstagabend in der Berliner Waldbühne, kurz vor elf. Bela B., Schlagzeuger und Sänger der Ärzte, eröffnet die dritte Zugabe der Band mit dem Lied „Der Graf“. Es ist ein Song über einen überforderten Vampir, der mit der modernen Welt und ihrer Schnelllebigkeit nicht mehr zurechtkommt und in den Suizid entflieht, denn „der Graf wollte nie ein Anachronismus sein“. Nettes Bild, aber gilt das auch für die Band?
Früher oder später beginnen erfolgreiche Rockgruppen mit der eigenen Musealisierung. Die Ärzte könnten gerade ihren 30. Geburstag feiern. Man muss sich das kurz bewusst machen: Als Farin Urlaub und Bela B. das erste Mal als „Die Ärzte“ zusammen Musik aufnahmen, wurde Helmut Kohl gerade Kanzler. Trotzdem soll die aktuelle Tour dezidiert keine Jubiläumstour sein, sondern begleitet das aktuelle Album auch. Manch alternde Band erweckt ja den Eindruck, sie produziere nur noch Alben, um einen Grund zu haben, auf Tour zu gehen und dann wieder die alten Lieder zu spielen. Die Ärzte bestreiten einen Großteil des Abends in der Waldbühne aber mit neuen Songs. Alte Lieder streuen sie nur sporadisch ein, und das will bei einem wandelnden Achtziger-Jahre-Mythos was heißen.
Nie mehr „Elke“
Da hat die Band ihre Fans ein wenig entwöhnt. Die ironische Sylt-Hymne „Westerland“ ist nicht mehr garantierter Bestandteil und „Elke“, diese Abrechnung mit einer überproportionierten Geliebten, wollen sie nie wieder spielen. Nur der Teenager-Liebesschmerz-Klassiker „Zu spät“ taucht immer noch regelmäßig auf. Mit bald 50 möchten die Ärzte nicht mehr nur auf die Teenie-Lieder von früher reduziert werden. Gerade auf dem letzten Album haben sie mit einer Mischung aus Selbstreflektion, Metaphysik und sehr praktischer Lebenshilfe passendere Inhalte entdeckt, diese erwachsenen Themen aber mit der typischen Ärzte-Leichtigkeit verpackt.
Ärzte-Konzerte, das lässt sich an diesem Abend in der Waldbühne gut beobachten, sind mittlerweile Ziele von Familienausflügen, bei denen nicht nur verschiedene Generationen, sondern auch musikalische Milieus zusammengeführt werden. Es gibt Shirt-Träger, die sich zu sehr speziellen Metalbands wie Enslaved bekennen, während andere Besucher erzählen, das letzte Mal bei Robbie Williams in der Waldbühne gewesen zu sein. Die Ärzte haben das Konsensmodell der alten BRD ins 21. Jahrhundert gerettet: Sie sind in alle Richtungen anschlussfähig.
Die Frage, ob das noch Punkrock ist, begleitet die Band seit ihrer Gründung. In der Waldbühne setzen sie den gleichnamigen Song als Statement an den Beginn des Konzerts. In dem Stück „Punk ist“, das musikalisch als Jazz-Song daherkommt, erklärten sie bereits 1998, dass es beim Punk letztlich nur drauf ankomme, sein Ding zu machen und auf die Meinung anderer nicht viel zu geben. Dieses Spiel mit der Doppelbödigkeit ist eine besondere Qualität der Ärzte, denen man diesen Punk ohne Punkmusik auch wirklich abnimmt.
Traditionsbewusstes Heimspiel
Dass die Band sich dennoch sehr wohl der Traditionen des Genres bewusst ist, wurde schon zu Beginn des Abends deutlich. Für alle drei Auftritte in der Waldbühne haben sie sich jeweils alte Helden der Punkbewegung als Vorband eingeladen: die Stranglers, die Undertones und The Damned. An diesem Abend eröffnen die Undertones, gegründet 1975 in Nordirland, das Konzert. Es ist eine Art musikalische Geschichtsstunde – noch einmal kann man den Sound live hören, der mit am Beginn der Punkgeschichte stand. Spätestens als Bela und Farin zum Undertones-Hit „Teenage Kicks“ auf die Bühne kommen und mit jungenhafter Vergnügtheit den Refrain singen, wird klar, wie wichtig auch postmodern abgeklärten Ironie-Punks diese Musik immer noch ist.
Der Kulturtheoretiker Greil Marcus erblickte im Sound der britischen Bands der siebziger Jahre einst „die Popzauberkraft, die unwiderstehliche Symbole der Veränderung gesellschaftlicher Realität schafft.“ Über 30 Jahre später fällt es bei allem Traditionsbewusstsein schwer, das Pathos von damals nachzuempfinden. Beim Ärzte-Konzert blitzt zumindest bei „Deine Schuld“ mal eine Idee davon auf, was Marcus gemeint haben könnte – kurz weht ein Hauch von Rebellion durchs Publikum.
Seit ihrer Bandgründung betonen die Ärzte immer großspurig, sie kämen „aus Berlin“, was sie lange vorm heutigen Berlin-Hype und der Hipsterschwemme als Adelung verstanden. Und so sorgt auch dieser Lokalpatriotismus dafür, dass jedes Berlin-Konzert der Band ausverkauft ist. Heimspiel ist schließlich Heimspiel. In der Waldbühne wird der Abend dann auch mit großem technischen Aufwand für eine mögliche DVD-Verwertung gefilmt.
Sofortige Ironisierung
Aber die Ärzte wären nicht die Ärzte, wenn sie nicht auch diese Aufnahmen gleich wieder ironisieren und dekonstruieren würden, indem Farin Urlaub den Fans bestimmte Choreografien abverlangt und so das Spontane und Authentische eines Live-Mitschnitts ins Absurde kehrt. Wobei die Ironisierung des Events auch selbst wieder der Logik des Mediums folgt. Denn irgendwas muss ja in der Interaktion zwischen Bühne und Publikum passieren, damit man es überhaupt filmen kann.
Die Frotzeleien zwischen Farin und Bela auf der Bühne sprechen dafür, dass die Chemie in der Band immer noch – oder nun auch wieder – stimmt. Wie die Beiden dabei in alten West-Berliner Zeiten schwelgen, lässt erkennen, dass sie auch ihre Frühzeit noch als wichtigen Bestandteil der Bandidentität verstehen.
In einem Interview sagte Farin Urlaub kürzlich, in zehn Jahren sehe er sich aber nicht mehr auf der Bühne. Nur so Sätze hat man von Mick Jagger natürlich auch schon öfter gehört. Momentan scheint der Spaß bei den Spaß-Punks jedenfalls noch da zu sein. Nach einer kurzen Pause steht im Oktober bereits ihre nächste Tour an, mit Stationen wie Regensburg oder Bielefeld. Das macht wirklich nur, wer darauf noch Lust hat.
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