Tim Mohrs Geschichte des Punk in der DDR beginnt nicht in der Drohkulisse des real existierenden Sozialismus, sondern im pulsierenden Osten Berlins kurz nach der Wende. Den hat der Autor kennengelernt, als er 1992 als DJ in die Hauptstadt kam: „Die Partys dauern bis in die frühen Morgenstunden, bald wird es wieder Nacht, und die Leute tanzen einfach weiter. Wir tanzen weiter“. Für Mohr ist klar, dass Punk der Taktgeber Berlins war und auch heute noch ist. Überall wittert er das Erbe einer Do-it-yourself-Kultur, die sich die Punks der DDR erkämpft haben. Diesen Kampf dokumentiert Mohr, vom ersten Auftauchen der als „Panks“ bezeichneten Jugendlichen in den 1970er Jahren über ihre Konflikte mit dem Staat bis hin zum Fall der Mauer in seinem 560
560 Seiten starken Buch Stirb nicht im Warteraum der Zukunft.Im Vordergrund stehen dabei Akteure: Die junge „Major“ zum Beispiel, die nicht in die Bundesrepublik flieht, sondern die Sex Pistols für sich entdeckt. „Micha“, der statt Marx den Anarchisten Bakunin liest und aneckt, weil er sich über die Diskriminierung einer Christin in der Freien Deutschen Jugend empört. Oder „Otze“, der für die LP DDR von unten nur knapp einer zehnjährigen Gefängnisstrafe entgeht. Wer in der DDR Punk war, wurde von Polizei und Staatssicherheit verhaftet, verhört, geschlagen und manchmal auch zwangspsychiatrisiert.Zwischen Spaß und PolitikMohr schildert mit einem kaleidoskopischen Blick, wie sich die Wege zahlreicher Akteure in der größer werdenden Szene überkreuzten. Lebensläufe verflicht er mit historischen Ereignissen: Solidarność, nukleare Paranoia, Friedensdemonstrationen. Auch beschreibt er die Entstehung von Punkbands wie Planlos, Zwitschermaschine oder Schleim-Keim. Passend dazu montiert Mohr Zitate aus den Stücken der Bands in seinen Text: „Wenn wir dafür ins Gefängnis gehen, so seid euch ganz gewiss, einmal kommen wir wieder raus und dann sind wir Terrorist“, so heißt es etwa im Song Der Exzess der Gruppe Namenlos. Variierte Parolen, etwa die titelgebende Aufforderung „Stirb nicht im Warteraum der Zukunft“, verleihen dem Buch einen unnachgiebigen, an Punk erinnernden Rhythmus.Es gelingt Mohr, ein zumeist differenziertes Bild der Punk- und Hausbesetzerszene im Osten zu zeichnen. Stimmig ist es dort, wo er Unterschiede innerhalb der Szene beleuchtet. Während manche Punks spaßorientiert waren, politisierten sich andere. Ihnen ging es um die Umdeutung staatlicher Erinnerungsorte, NS-Opfergedenken oder Antifaschismus. So schildert Mohr, wie die Stasi bereits 1983 versuchte, Punks daran zu hindern, beim Konzentrationslager Sachsenhausen einen Kranz niederzulegen. Auch die Nähe der Subkultur zu freikirchlichen Bewegungen wird von Mohr herausgearbeitet sowie ihre Positionierung zwischen Kritik an der DDR einerseits und am kapitalistischen Westen andererseits.Mohrs Identifikation mit den Punks steht seiner Auseinandersetzung manchmal aber auch im Weg. Etwa, wenn er Pauschalurteile über Auswanderer aus der DDR fällt und dabei eigennützige Motive unterstellt oder sie als „unpolitisch“ bezeichnet. In anderen Passagen rutscht er in die „Wir gegen die Anderen“-Rhetorik seiner Helden ab. Damit einher geht eine gewisse Eintönigkeit. Mohrs erzählerischer Impetus erschöpft sich hier trotz seines interessanten Themas. Bald kennt man alle Schilderungen von Exzessen und das inflationäre Reviermarkieren à la „Das ist Punk!“. Und man versteht, dass Mohrs Buch eigentlich die Geschichte des Kollektivsubjekts „Untergrund“ erzählen will.Stirb nicht im Warteraum der Zukunft. Die ostdeutschen Punks und der Fall der Mauer fügt der Fachliteratur zum Thema wenig Neues hinzu. Ausgiebig dokumentiert wurde die Szene bereits in dem beim Verbrecher-Verlag erschienenen Ausstellungskatalog Too much future – Punk in der DDR von 2005. Auch der Band Wir wollen immer artig sein – Punk, New Wave, HipHop und Independent-Szene in der DDR 1980-1990, den Ronald Galenza und Heinz Havemeister 1999 bei Schwarzkopf & Schwarzkopf veröffentlicht haben und der vor kurzem in einer erweiterten Neuauflage erschienen ist, ist einschlägig.Mohrs Werk demgegenüber gelingt es, verstreute Informationen, Dokumente, Fotografien und neues Interviewmaterial auf eingängige Weise zu bündeln. Dem Text merkt man dabei seine Erfahrungen als Übersetzer deutscher Coming-of-Age-Romane wie etwa Wolfgang Herrndorfs Tschick und Charlotte Roches Feuchtgebiete sowie als Ghostwriter von Musiker-Memoiren an. Auch Hunter S. Thompsons Gonzo-Journalismus ist als Einfluss spürbar – Mohr arbeitete mit Thompson bis zu dessen Tod zusammen.Zu viel ZukunftAm Ende bleibt die Frage, worin das Erbe der Ost-Punks besteht, von denen viele nach der Wende aus den von ihnen besetzten Häusern vertrieben wurden. Denn schon im November 1990 kam es zu ersten polizeilichen Räumungen im Berliner Bezirk Friedrichshain. Das Motto der Ost-Punks sei, schreibt Mohr in Anlehnung an den schon erwähnten Ausstellungstitel, nicht „No Future“ gewesen, sondern „Too much future“. Denn in der DDR sei alles vorherbestimmt gewesen. DIY wurde so zu einer emanzipativen Geste.Nach dem Lesen fragt man sich allerdings, ob sich dieses Credo auf die Gegenwart übertragen lässt. Hat die Arbeitsethik des Kapitalismus die DIY-Mentalität der Punks nicht längst zu einer ihrer eigenen Tugenden erklärt? Auf diese Frage will Mohrs Buch keine Antwort geben. Dafür bietet es einen bisweilen wirklich mitreißenden Einblick in die Geschichte der Ost-Punks und ihres Kampfes um Selbstbestimmung.Placeholder infobox-1