"Wer denkt denn an uns!?"

Chemnitz Am Montagabend war ich anlässlich des Themas "Unterbringung von Asylsuchenden" zu Besuch bei der Bürgerversammlung Chemnitz

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Mit pochendem Herzen stehe ich nervös in der Schlange, gut 200 Personen vor mir, die allesamt darauf warten, in den großen Saal der Stadthalle Chemnitz, hereingelassen zu werden. Es ist 16 Uhr, eine Stunde vor Beginn der Veranstaltung und jeden Moment werden die Türen geöffnet und die ersten Bürger*innen nach Taschen- und Körperkontrollen hereingelassen. Vor mir begrüßt sich eine Gruppe Männer mit zwei Frauen per Handschlag – Mitglieder der rechtsextremen Gruppierung „Heimat und Tradition Chemnitz Erzgebirge“. Flyer werden ausgetauscht, die im Anschluss an der Veranstaltung an die Bürger*innen beim Verlassen des Gebäudes verteilt werden sollen und auf deren nächste Aktivitäten hinweisen.

Nach verpflichtender Abgabe von Rucksäcken an der Garderobe nehmen die Leute im 1200-Personen-fassenden Saal der Stadthalle Chemnitz Platz. Kurz nach 17 Uhr wird die Veranstaltung im vollen Saal begonnen. Erstes Klatschen gab es bereits vorher, als der Stadtrat Kohlmann (ProChemnitz) das Podium betritt. Erste Buhrufe lösen das Klatschen ab, als sich ein Vertreter der Linkspartei weigert, ihm die Hand zu schütteln. Diese Abwechslung zwischen Klatschen und Buhen zieht sich durch die dreistündige Veranstaltung wie ein roter Faden. Politiker*innen links der CDU werden ausgebuht, asylkritische und fremdenfeindliche Aussagen applaudiert.

Zu Beginn stellt Oberbürgermeisterin Ludwig in einer Präsentation die wesentlichen Fakten zu Flüchtlingszahlen in Chemnitz dar. Anschließend werden die Podiumsteilnehmer*innen nacheinander aufgefordert, auf Fragen zu antworten, die bereits im Vorfeld der Veranstaltung via E-Mail gesammelt wurden. Moderiert wird die Veranstaltung von Pfarrer Brenner aus Chemnitz, der größtenteils ruhig, aber angespannt durch den Abend leitet.

Als die Bürger*innen in der freien Runde die Chance haben, ihre Fragen an die Politiker*innen zu stellen, zeigt sich in voller Breite die grundsätzliche Skepsis der Bürger*innen gegenüber deren gewählter Vertreter*innen. Die erste Frage – oder besser Redebeitrag – stammt von einem älteren Herren mit weißem schütteren Haar, der einen Aufsatz über „Diktator Merkel“ vorliest und die Chemnitzer*innen fragt, warum sie denn nicht zurücktritt. Daneben werden Fragen von weinenden Frauen gestellt, die nicht mehr wissen, wohin mit der Angst um ihre Kinder. Demoverbote für Gegendemonstrationen werden gefordert, da die Demoteilnehmer*innen Angst davor haben, auf die Straße zu gehen und es für die Polizei so auch sicherer sei. Überhaupt könne man so mehr in Ruhe demonstrieren. Hier sei ergänzend gesagt, das die montägliche PEGIDA-Demo rund 300-600 Personen umfasst und die Gegenkundgebung ca. 50-150 Personen. Auch wird auf Gegenkundgebungen eindringlich vor Übergriffen auf den Nachhausewegen gewarnt, die immer mal wieder passieren.

Hierzu auch die Äußerung eines Bürgers, der eigentlich gar nicht auf PEGIDA-Demonstrationen gehen will, aber sich auch sonst nirgends zurechtfindet, wie er – am Applaus erkennbar – wohl für einen größeren Teil der Menschen spricht. Der Schutz von Asylbewerberheimen wird kritisiert ("Wer denkt denn an uns!?"), weil Rettungskräfte ja Stichschutzwesten tragen müssten. Das Wort „Vergewaltigung“ wird ungefähr so häufig eingeworfen, wie die Diskussion, ob man den Nazi sei oder nicht, und was einen Nazi von einem besorgten Bürger unterscheide. Eine Frau stellt die Frage, warum denn von „Flüchtlingen“ gesprochen wird und nicht von „Asylanten“, wobei sie letzteres deutlich negativ konnotiert und mehrfach wiederholt. Verbindungen zwischen 1989 und der aktuellen politischen Lage werden gezogen: Die Regierung verstehe das Volk nicht mehr. Mein Sitznachbar sieht das Rentensystem durch Flüchtlinge in Gefahr.

Spätestens in der Fragerunde zeigte sich anschaulich, dass alle vorgetragenen Fakten aus der Eingangspräsentation nicht weiter berücksichtigt werden. Einer sachlichen Diskussion wird so von Seiten der Bürger*innen geschickt aus dem Wege gegangen. Ähnlich unfähig war auch ein MdDB der Linken, der die Ursachen der Flüchtlingsströme in Syrien bekämpfen wollte – und die unmittelbaren Probleme der Chemnitzer Bevölkerung nicht wahrnahm. Souverän hingegen war Oberbürgermeisterin Ludwig, die den Besuchern versuchte klarzumachen, dass es für komplexe Probleme keine einfachen Lösungen gibt.

Insgesamt entstand der Eindruck, dass die Veranstaltung im Hinblick auf Informationen nicht allzu ertragreich verlaufen ist. Bei den Menschen, die die Plätze um mich herum belegten, hörte ich Sprüche wie „Ich scheiß neben eine Moschee“, sowie andere islamfeindliche und menschenverachtende Ausrufe. Ein ähnliches Niveau hatte Herr Kohlmann auf der Bühne, der mehr Respekt vor 17-jährigen kurdischen Kämpfer*innen hat als vor Kriegsflüchtlingen aus Syrien, die von Deutschland abgezogen würden, obwohl man sie doch da unten braucht.

Ich selbst hoffe, dass diese Veranstaltung insoweit etwas gebracht hat, als dass es in der nächsten Zeit weniger Angriffe auf Asylheime und einen Hauch mehr Toleranz in Chemnitz und Umgebung geben wird. Alles andere scheint bereits utopisch.

Nachtrag: Gestern Abend gab es keine 12 Stunden nach der Veranstaltung eine Schlägerei in Chemnitz, bei der im Beisein der Polizei ein Hitlergruß gemacht und volksverhetzende Parolen gerufen worden sind.

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Geschrieben von

Sebastian Jakob

Soziologie, Dinge des täglichen Bedarfs

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